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„Im Café der verlorenen Jugend“ von Patrick Modiano

Patrick Modiano gewann 2014 den Nobelpreis für Literatur. Modiano schreibt immer wieder melancholische Geschichten über Erinnerung, Vergessen, rätselhafte Begegnungen in Paris und Orte, Ortsnamen, Symbole und Bedeutungen, die sich zu einem großen Ganzen und sehr gut lesbarer Literatur vermengen. Am Ende bleibt bei Modiano immer eine Spur von Rätsel übrig, die man nach der Lektüre, egal ob auf Französisch oder Deutsch, akzeptieren muss. Wir haben uns am Modiano-Klassiker „Im Café der verlorenen Jugend“ versucht.

Das „Café der verlorenen Jugend“ kreist in mehreren Kapiteln um eine zentrale Figur und einen Ort. Es handelt sich um Jacqueline Delanque, die in ihrer Jugend nächtens durch die Stadt Paris strömerte und dabei sogar zweimal von der Polizei aufgegriffen wurde. Etwas älter geworden frequentiert sie das Café Le Condé, in dem sie auf verschiedene Personen trifft, die uns im Laufe des Romans immer wieder begegnen. Delanque ist mit einem reichen Immobilienmakler aus Neuilly verheiratet, verlässt diesen aber und zieht nach Paris in eine Wohnung, wo sie mit Roland zusammenkommt.

Die Geschichte wird aus vier verschiedenen Perspektiven erzählt, zunächst aus der Perspektive eines Studenten an der École supérieure des mines, der der Geschichte von Jacqueline Delanque, genannt Louki, nachgeht. Er forscht nach, wer Louki war, wer sich hinter dieser Person verbirgt, wo sie wohnte, mit welchen Personen und an welchen Orten sie verkehrte. Er hat sie sich zum Studienobjekt erwählt und möchte ihre Geschichte aufspüren. Im Zentrum der Narration steht dabei das Condé, jenes Café, in dem die „Bohémiens“ um Louki sich treffen, all jene, von denen man gerade genug weiß, um mit ihnen die Abende verbringen zu können, aber vielleicht auch gar nicht unbedingt mehr wissen möchte.

Bowing, genannt „Capitaine“, notierte die Namen aller Gäste, die ins Condé kamen. Er hatte ein Notizheft, in dem er aufschrieb, wer hereinkam und wer das Lokal wieder verließ, inklusive genauer Uhrzeit. Dieses Heft fällt dem Studenten und Erzähler in die Hände und dient ihm als Ausgangspunkt für seine Recherchen. Es ist der namenlose „Brünette in der Wildlederjacke“, mit dem Louki mehrmals gemeinsam im Notizheft verzeichnet ist, der es dem Studenten angetan hat. Ist er verliebt in Louki? Auch Loukis Wohnadresse in Paris erfährt der Student mithilfe des Notizeifers von Bowing, der „Fixpunkte“ innerhalb der Großstadt schaffen wollte, indem er alle Gäste in seinem Heft verzeichnete.

Erst gegen Ende der ersten Erzählung erfahren wir, dass der Student die anderen Gäste im Condé bisweilen beobachtete und dabei auf sichere Distanz ging, dass er an der elitären École des mines eingeschrieben ist und sich aber im studentisch-halbseidenen Milieu herumschlägt. Auch ein Detektiv spürt Louki, der wichtigsten Figur dieses Büchleins, nach. Er gibt sich im Condé als Kunstbuchverleger aus, möchte aber eigentlich ihre Adresse herausfinden und fährt danach auch nach Neuilly, wo Jacqueline Choureau, Mädchenname Delanque, wohnhaft ist oder sein soll.

Doch in ihrer Ehe mit einem Vorzeigemann und Makler, den sie siezt, fühlt sich Louki beengt: Statt in der wohlhabenden Vorstadt verbringt sie ihre Zeit lieber in den Cafés der Rive gauche (des linken Seine-Ufers) von Paris, wo sie Roland kennengelernt hat. Bereits in ihrer Jugend ist sie, wie der Detektiv Pierre Caisley durch Kontakte zur Polizei herausfindet, nachts durch die Straßen gewandert und wurde dabei zweimal von Polizisten aufgegriffen („Herumstreunen einer Minderjährigen“). Ihre Mutter hat sie darauf auf dem Polizeirevier abgeholt. Doch nichts, auch nicht die Begegnungen mit der Polizei, hinderte Louki daran, ihre nächtlichen Gänge fortzusetzen. So früh sie konnte, zog sie von zuhause aus.

Alle, auch Jacqueline selbst, beschreiben die Geschichte von Louki, denn in den nächsten Kapiteln ist Louki selbst die Erzählerin, was noch einmal eine neue Schicht zu den vorangegangenen Annäherungen, Spurensuchen, Recherchen, Zusammentragungen und Vermutungen hinzufügt. Wie kann man sich einem Menschen nähern, wenn man ihn nur aus zweiter Hand kennt? Was ist die echte Geschichte, die wirkliche Biographie eines Menschen, oder gibt es immer nur leicht verfälschte Informationen, selbst wenn der Betreffende selbst seine eigene Geschichte aus der Erinnerung erzählt? Weichen alle Geschichten, je nachdem wer sie erzählt, ein wenig voneinander ab?

Solche die Wahrheit einer einheitlichen Geschichte und objektiven Biographie relativierenden Fragen kommen auf, wenn man „Im Café der verlorenen Jugend“ liest, das vier verschiedene Versionen ein und derselben Person, ein und derselben Geschichte präsentiert. Aber genau diese Spurensuche, die nie endet, ist typisch für Patrick Modiano. Es gibt bei seiner Suche nach Orten, Personen und Wahrheiten nichts Endgültiges, sondern nur die Zwischenstufen, das Halbdunkel und das Ambige. Wir sind als Leser/innen mit den Erzählern der Geschichte auf der Suche nach einigen wenigen Anhaltspunkten, mithilfe derer sich eine halbwegs greifbare Form von Wahrheit oder eine Spur von Objektivität konstituieren lässt.

Doch sobald ein Ort gefunden, ein Notizheft aufgeschlagen, ein Symbol gedeutet ist, stellt sich heraus, dass diese Indizien keine eindeutige Wahrheit enthalten. Die Person Louki war an mehreren Orten zuhause, das Notizheft enthält Bezeichnungen wie der „Brünette in der Wildlederjacke“, hinter denen sich etwas Obskures verbirgt. Symbole wie AUTEUIL 15-28 oder der Totenkopf tauchen in ähnlicher Form auch in anderen Büchern (z. B. „Unterwegs nach Chevreuse“) Patrick Modianos auf und sind offenbar eine Chiffre für etwas Tieferes, eine Erinnerung, die länger zurückliegt und mit einer bestimmten Bedeutung aufgeladen ist, da sie immer wiederkehren.

AUTEUIL 15-28 ist eine Telefonnummer, die ins düster wirkende Nirgendwo führt, der Totenkopf ein makabrer Spitzname und doch scheint beides auch eine Metapher für mehr als das zu sein. Der Autor bleibt hier eine Erklärung schuldig. Auteuil, das am Ende des Romans „Im Café der verlorenen Jugend“ wiederkehrt, scheint für Patrick Modiano, wenn man auf ein Proust’sches Konzept zurückgreift, beinahe eine mémoire involontaire zu sein, ein locus amoenus, der mit Kindheitserinnerungen eng verbunden ist. Dies scheint umso plausibler, als Modiano im heutigen Boulogne-Billancourt geboren wurde, das an die Kommune Auteuil grenzt. Auch Neuilly ist übrigens nicht weit davon entfernt. All diese Gemeinden liegen im Pariser Westen, nahe des Bois de Boulogne.

Patrick Modiano hat ein Rezept zu schreiben gefunden, das fesselt und immer wieder funktioniert. In Variationen mengt er auf melancholisch-trübsinnige, aber auch auf nostalgisch-romantische Art Orte in Paris, Spuren, Anhaltspunkte, Rätsel zu einem anregenden, aber auch leicht verwirrenden Ganzen, das von Erinnerung, Vergessen und Liebe handelt. Seine Figuren sind dabei meist junge Frauen und halbseidene Männer innerhalb einer Gruppe von Personen in Paris, die in den Blick eines Detektivs oder einer anderen Figur geraten und deren Spur aufgenommen wird. Wir folgen also dem Suchenden und begeben uns selbst – begierig, mehr zu erfahren – lesend auf die Suche.

Diese Erinnerungs- und Vergessens-Suchrätsel funktionieren ohne Frage immer wieder, bleiben in Variationen immer wieder spannend und machen Patrick Modianos Erinnerungskosmos, der meist in der Zeit der Okkupation oder unmittelbar danach spielt, so einzigartig. Dies gilt auch für „Im Café der verlorenen Jugend“, das ich uneingeschränkt empfehle, vor allem für jene, die sich in einem studentischen Paris in nächtlich-melancholischer Stimmung verlieren wollen.

Lob auch an die Übersetzung von Elisabeth Edl. Sicher war das nicht mein letztes Buch von Patrick Modiano!

Bewertung: ⭐⭐⭐⭐⭐ 5/5

Patrick Modiano: Im Café der verlorenen Jugend. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. dtv Verlag. 8,90 €. (Taschenbuch Ausgabe)

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