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„Die Entflogenen“ von Étienne Kern

Der französische Schriftsteller Étienne Kern hat zwischen 2013 und 2020 eine Reihe von Essays veröffentlicht. Mit „Die Entflogenen“ folgte nun sein erster Roman, für den er auch den Prix Goncourt du premier roman erhielt. Das Werk handelt von Franz Reichelt, einem Damenschneider, der unbedingt fliegen möchte. Er will mithilfe eines selbst gebauten Fallschirms vom Eiffelturm springen. Ob das gut geht?

Franz Reichelt kam ursprünglich aus Böhmen nach Paris und baute sich dort ein neues Leben auf. Er war Schneider geworden, aus seinem Dorf nach Wien gegangen, um dort zu arbeiten, und 1900 schließlich siedelte er nach Paris über, der Hauptstadt der Mode. Man begegnete ihm anfangs mit Skepsis, wegen des Krieges von 1870/71. Es war nicht einfach, da er noch kein Französisch konnte. Doch dann fand er einen Dienstherrn, ehe er schließlich sein eigenes Geschäft eröffnete, in der Rue Gaillon 8. Dieses Geschäft war nur ein kleiner Salon, doch es wurde sein Ein und Alles, sein Königreich, in dem er walten konnte.

Franz stellt Louise als Hilfskraft ein und zunächst läuft alles gut. Der Laden läuft gut, Franz geht seinem Leben nach… Doch dann beginnt in Franz‘ Leben etwas, das alles verändert. Zunächst kommen die Brüder Wright nach Frankreich, das ist im Jahr 1908. Dann, ein Jahr später, überquert Blériot den Ärmelkanal. Es werden Pilotenschulen gegründet, eine wahre Aufbruchstimmung entsteht, jeder möchte jetzt an der neuen Begeisterung für das Fliegen teilhaben, etwas von dem Aufbruchsgeist spüren. Die Menschen träumen vom Fliegen.

Auch Antonio, eigentlich Schneider, will nun fliegen. Er gibt sein Geschäft auf und konzentriert sich fortan darauf, ein flugfähiges Gefährt zu bauen, eine Maschine, mit der er den Himmel erobern kann. Er lässt sich einen teuren Motor liefern und baut damit die Fernandez, dann die Fernandez II und schließlich den Aéral. Während die beiden Fernandez nicht abhoben, kann Antonio mit dem Aéral auf einem Hangar in Antibes bei Nizza einen Start hinlegen, doch ein Zugseil reißt und der Pilot ist tot. Antonio ist mit 33 Jahren gestorben, nur wegen der Fliegerei. Er hinterlässt eine Witwe und eine Tochter.

Auch den Protagonisten Franz packt das Flugfieber. Er hat von Antonio nicht gelernt, sondern lässt sich immer mehr mitreißen. Er möchte nun selbst fliegen und entwirft einen Anzug, der zugleich auch Fallschirm sein soll. Mit diesem Anschirm möchte er vom Eiffelturm springen. Zunächst aber muss er ihn entwerfen und schneidern. Er vernachlässigt seine restliche Arbeit immer mehr und widmet sich zunehmend dem Fallschirm. Der Wunsch zu fliegen wird zu einer Obsession. Franz möchte einen Wettbewerb gewinnen, dessen Gewinner mit dem Prix Lalance und 5000 Francs belohnt wird.

5000 Francs, das ist natürlich eine stattliche Summe. Doch dafür vom Eiffelturm zu springen? Franz denkt nicht über die Risiken nach. Er sieht nur die positiven Seiten, ist vollauf hin und weg von der Freude am Fliegen. Sein Umfeld hält ihn nicht zurück. Er schneidert also den Anzug, der im Fall zu einem Fallschirm werden soll. Er probiert ihn auf einer Halle aus – und es funktioniert. Die Höhe einer Halle unterscheidet sich zwar von der Höhe des Eiffelturms, doch das kümmert Franz nicht. Er meldet seinen Testsprung bei der Polizei an, eine Puppe, die er zerschmettert.

Schließlich steht der große Tag an. Er selbst möchte springen. Von diesem Sprung existiert eine Aufnahme, die Kameramänner gemacht haben – auch Fotografien. Die Kameramänner haben Franz vor dem Sprung, währenddessen und danach gefilmt. Natürlich ist der Sprung gescheitert, Franz Reichelt ist wie zuvor Antonio an seiner eigenen Euphorie gestorben. Für die Zuschauer war das ein trauriges Schauspiel. Für die Presse ein Ereignis, über das sie berichten konnte. Für Étienne Kern ist es ein ganzes Buch wert, denn er selbst hat eine besondere Verbindung zu Stürzen.

Wie er in den kursiv gesetzten Zwischenkapiteln beschrieben wird, hat er sämtliche Dokumente zu Franz Reichelt und dessen Geschichte gesammelt. Zunächst stieß er nur auf ein Youtube-Video, das er sich wieder und wieder angesehen hat. Dann hat er mehr dazu geforscht. Kerns Roman ist damit auch ein dokumentarischer Roman, der in Zwischenkapiteln, die das Geschehen immer wieder etwas auflockern und auch aktualisieren. Reichelt beschreibt Fotografien, gibt ganze Videoaufnahmen im Detail wieder und versucht auch, das Geschehen zu aktualisieren, indem er autobiographisches Material einflicht, welches anfangs scheinbar willkürlich gewählt scheint, aber dann seinen Sinn entfaltet.

Der Autor gibt die Episode einer Freundin wieder, die an einer unheilbaren Krankheit litt und sich in den Tod stürzte. Er erinnert sich an den Tod seines Großvaters, der ungewollt vom Balkon stürzte und tot war. Étienne Kern ist wohl deshalb von dem Thema so mitgerissen worden, weil er immer wieder davon träumt, dass jemand auf einem erhöhten Platz oder Vorsprung steht und herunterfällt und schließlich auf der Erde landet. Es ist der Tod des Großvaters, der durch einen Unfall vom Balkon stürzte, der sich dem Autor eingebrannt hat und in Albträumen immer wiederkehrt.

Und genau dieser Art war auch der Sturz von Franz Reichelt, dessen Fallschirm sich schließlich nicht öffnete, der aber wahrscheinlich auch in geöffnetem Zustand nicht geholfen hätte, angesichts der Höhe des Eiffelturms. Schließlich starb Reichelt und hinterließ durch den senkrechten Aufprall ein 15 Zentimeter tiefes Loch im Erdboden. Ein grausames Ende, ja, man muss es so sagen. Denn dieser Roman hat auch seine schlechten, seine trübsinnigen Seiten. Er ist voller Euphorie, einerseits, er enthält auch die ein oder andere Liebesgeschichte, die nebenbei. Doch im Wesentlichen geht es um die Entwicklung hin zu dem tragischen Ende, auf das die gesamte Geschichte zuläuft. Wir reisen mit diesem Roman ins Paris des 19. Jahrhunderts, in eine Übergangs- und Aufbruchszeit, in die Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als die Weltordnung am Wanken war. Und wir erleben große Geschichte anhand der melancholisch-sanftmütig erzählten Geschichte von Franz Reichelt.

Dieser Höhepunkt, der Sturz von der Tour Eiffel, ist zugleich das Ende. Da der Tod von Franz Reichelt nicht noch durch etwas anderes abgemildert wird, bleibt ein melancholischer Beigeschmack. Es ist ein einsamer, ein melancholischer und zugleich auch ein euphorischer Roman, dessen Stimmungen schnell umschlagen. Man sollte das Buch also nicht lesen, wenn man ohnehin bereits in schlechter Stimmung ist. Für alle, die sich für den Beginn des 20. Jahrhunderts in Paris und die sich für die Flugeuphorie zu dieser Zeit interessieren, ist dieses Buch genau das Richtige: ein Roman über Paris zur Jahrhundertwende, als die Menschen sich für neue Strömungen begeisterten.

Der Roman war für zahlreiche Preise nominiert, darunter der Prix Fémina und der Prix Renaudot, doch erhalten hat er letztlich den Prix Goncourt du premier roman. Erschienen ist das Buch bei Ars vivendi in einer Übersetzung des Nürnberger Schriftstellers Elmar Tannert.

Bewertung: ⭐⭐⭐⭐ 4/5

Etienne Kern: Die Entflogenen. Aus dem Französischen von Elmar Tannert. Ars Vivendi Verlag. 20 €.

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