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„Ein Leuchten“ von Jon Fosse

Ich habe den Nobelpreis für Jon Fosse zum Anlass genommen, die aktuelle Veröffentlichung „Ein Leuchten“ zu lesen, ein eher schmales Bändchen von gerade einmal 80 Seiten, das unprätentiös daherkommt, wenn man von dem goldenen „Nobelpreis für Literatur 2023“-Aufkleber auf dem Schwarz-Weiß-Cover einmal absieht. Die Handlung spielt in einem Wald, in dem sich der Protagonist und Ich-Erzähler in einer verschneiten Nacht verfährt. Fosse entführt die Leser in dieser Novelle in eine fantastische Zwischenwelt, in der Tod und Leben einander erstaunlich nahe kommen.

Es beginnt mitten im Wald und endet im Wald. Doch was zwischen den beiden Buchdeckeln passiert, ist fesselnd, spannend und doch nüchtern und auf eine gewisse Weise sehr einfach erzählt, sodass Fosse als skandinavisch-bodenständiger Erzähler erscheint. Die großen Effekte bleiben hier aus, an die Stelle eines Spannungsbogens treten die interessanten Figuren, die die Handlung am Laufen halten. Da wäre zum Beispiel der Ich-Erzähler, der sich im Wald verirrt bzw. verfährt, ein typisches Märchenmotiv, das nicht die einzige Anspielung auf Märchen bleibt in dieser Erzählung von Jon Fosse.

Kaum hat er seinen Wagen im Schnee festgefahren, überlegt der Erzähler lange, dafür aber in umso knapper bemessenen Parataxen, ob er denn in seiner Situation im warm beheizten Auto bleiben solle, wo er nach und nach eingeschneit wird, oder sich doch besser auf die Suche nach Hilfe machen sollte, ab ins nächste Dorf, wo ein paar Leute gerade beim Abendbrot sitzen und ihn vielleicht abschleppen könnten. Er entscheidet sich schließlich für die zweite Option und entfernt sich von seinem Wagen. Doch kaum verlässt er den schneebedeckten Pfad, verirrt er sich erneut, dieses Mal im Wald.

Wie soll er nur jemals wieder aus diesem Irrhain herausfinden, in dem nun nicht nur der Schnee das Umhergehen erschwert, sondern zusätzlich die Dunkelheit seine Orientierung einschränkt? Der Ich-Erzähler, der namenlos bleibt, verliert zunehmend seine anfängliche Hoffnung, aus dem Wald heraus und von dort zum nächsten Weiler zu gelangen, wo womöglich ein Lichtlein brennen könnte, das auf Menschen hindeutet. Doch als sein Mut auf dem niedrigsten Level angekommen zu sein scheint, taucht aus dem Nichts ein Leuchten mitten im Dickicht und in der Waldfinsternis auf.

Woher kommt das unverhofft aufgetretene Leuchten? Was hat es für den Erzähler zu bedeuten? Und wird es ihn aus der Finsternis ins Licht führen? Diese und mehr Fragen stellt sich der Protagonist, als er dem mystischen und zugleich mysteriös bleibenden Leuchten begegnet, das immer wieder seine Gestalt und seine Position ändert, als wolle es dem Betrachter (und in gewisser Weise auch den Lesern) ein Rätsel aufgeben. Fosse hat sich hier ein schönes Märchen mit fantastischen und rätselhaften Elementen ausgedacht, dessen Geheimnis sich erst gegen Ende in Teilen, nicht vollständig zu lösen beginnt.

Zwischen Leben und Tod gleitet der Erzähler durch die düstere Nacht im schneebedeckten, kalten Wald. Sein Gefährte wird dabei das Leuchten, das ihn zu Vermutungen und Deutungen anregt und ihm den ein oder anderen philosophischen Gedanken einflößt. Es wäre zu einfach, wenn es eine eindeutige Erklärung für das Leuchten gäbe. Man kann es auch nicht ganz einfach als fantastisches Element in einer sonst realistischen Geschichte abtun. Es ist auch nicht nur eine Metapher für das Unerklärliche, Rätselhafte, Ungreifbare, Fantastische oder Sonderbare, für den Tod oder das Jenseits. Es ist mehr als all das, all das zusammen und vielleicht doch nichts davon ganz.

Das Leuchten wird gegen Ende noch komplementiert durch eine schwarz gekleidete Todesfigur im Anzug, sodass man es vielleicht als Zeichen der Hoffnung und des Lebens, als christlich konnotiertes Symbol für das Metaphysische lesen könnte. Hier der Tod, dort das Leben. In einer Erzählung sucht man sich gern solche Oppositionen, doch vielleicht ist auch das zu kurz gegriffen in einer Novelle eines Literaturnobelpreisträgers, und Fosse wollte einfach etwas Symbolhaftes, Fantastisches, Rätselhaftes auftreten lassen, das dem Erzähler ebenso wie den Lesern Raum für offene Deutungen gibt.

Auch weil man das Leuchten nicht endgültig erklären und ausdeuten wird können, bleibt diese Novelle mitten im Nirgendwo, im Niemandsland zwischen Finsternis und Schnee, spannend und mitreißend. Das Fantastische ist immer faszinierend, bereits im 19. Jahrhundert gab es eine Bewegung in der Literatur, wo Fantasiehaftes und Realistisches miteinander verknüpft wurden und die Grenzen zwischen beiden Welten verschwammen. An diese Strömung schließt Fosse an, wenn er das Leuchten in das auf der Grenze zum Tod stehende Leben des Erzählers treten lässt, sozusagen als letzten Weggefährten und letzte Hoffnung auf Erlösung.

Ein literarisches Kleinod, das die großen Themen des Lebens anspricht und dabei den Mut und die Hoffnung nicht vergisst. Wie immer hervorragend übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel.

Bewertung: 5/5

Jon Fosse (2024): Ein Leuchten. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt Verlag. 22 €.

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