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„Im Herzen eines goldenen Sommers“ von Anne Serre

Anne Serre hat für „Im Herzen eines goldenen Sommers“ (frz. „Au cœur d’un été tout en or“) den Prix Goncourt 2020 de la Nouvelle erhalten. Die Kurzgeschichtensammlung ist eine vielseitige Sammlung von Identitäten, wobei wir in jeder der zwei- bis vierseitigen Geschichten eine neue Person kennenlernen.

Anne Serre spielt in der Novellensammlung mit der Vielheit der Identitäten. Zu Beginn des Werkes zitiert die Autorin Fernando Pessoa: „Jeder von uns ist mehrere, ist viele, ist ein Übermaß an Selbsten.“ Statt über sich selbst zu schreiben, wie es derzeit die autofiktionale und autobiographische Tendenz im Literaturbetrieb vorgibt, schreibt Serre in diesem Werk über die Identitäten, die sein könnten.

Meist handelt es sich bei den Ich-Erzähler*innen der Geschichten um eine Frau, die, wie man im Laufe der Geschichten erfährt, selbst eine französische Schriftstellerin ist. Es besteht daher durchaus eine Nähe zur Autorin, auch wenn Anne Serre sicherlich nicht alles erlebt hat, was sie in diesem Buch beschreibt. In einigen Geschichten sind die Ich-Erzähler aber auch Männer, so zum Beispiel in der Geschichte des Schriftstellers, der sich um den Unterschied zwischen Imperfekt und Perfekt sorgt und darüber mit seiner Lektorin Irène diskutiert.

Überhaupt spielt die Lektüre und spielen auch filmische Referenzen in diesem Buch eine besondere Rolle. So erinnert sich der Erzähler in „Ein Würfelwurf“ an seine Zeit in Rom, die allerdings von literarischen Romberichten und filmischen Erinnerungen wie La Dolce Vita verstellt ist. Auch das Reisen spielt bei Anne Serre eine besondere Rolle, denn wir reisen nicht nur nach Italien, sondern auch häufiger einmal nach Großbritannien oder auch nach Deutschland.

So findet sich die Erzählerin in „Selbst Schluss machen“ am Bonner Bahnhof wieder, wo sie eine alte Freundin, Selma, wiedertrifft, die sie seit Jahrzehnten nicht gesehen hatte, nur um nach diesem Treffen endgültig mit ihr zu brechen. Man kann Anne Serres kunstvolle und auch bisweilen philosophisch-anaphoristisch klingende und ausklingende Prosa schwer zusammenfassen, denn häufig erzählt die Autorin uns von einer besonderen Begebenheit, die – wie im Genre der Kurzgeschichte üblich – aus dem Alltag herausfällt, und zu einer nachdenklichen Überlegung anregt.

So überlegt sich die Erzählerin im Anschluss an ihr Treffen mit Selma in Bonn, dass, nachdem Selma im Alter von zweiundzwanzig Jahren mit ihr gebrochen hatte, sie vermutlich nur deshalb die alte Freundin dreißig Jahre später wiedertreffen wollte, um nun ihrerseits den Bruch zu vollziehen und damit das Ende der Freundschaft zu besiegeln.

Manche Geschichten sind auch etwas absurd, so wie die über „Madame Gandi“, wo eine Person versucht, zu einer psychotherapeutischen Sitzung bei besagter Madame Gandi zu gelangen, aber immer wieder am Code der Eingangstür und verschiedenen anderen Hindernissen scheitert. Eine weitere absurde Geschichte ist „Das ist eine Hypothese“, in der es um einen Mörder geht, der von der Polizei vernommen wird, aber in seiner Tätigkeit, dem Ermorden, nichts Abnormes sieht, sondern eine Art Spiel, etwas Alltägliches, das man ebenso ausführt wie das tägliche Aufstehen, Essen, Trinken. Viel mehr als seine Taten, als das „Schlingenlegen“, interessieren ihn ohnehin die Wörter und Wendungen, in denen eine geheime Bedeutung steckt.

Auch das Reisen hat für Anne Serre offenbar eine besondere Bedeutung, denn sie nimmt uns mit in verschiedene europäische Städte, u. a. auch nach Barcelona, wo die Protagonisten einen Koffer verlieren: Kaum angekommen, wird ihnen inmitten eines Sturms, der von Nacht begleitet wird, der Koffer auf offener Straße geraubt. Im Koffer befinden sich die Flugtickets, die Notizbücher von Hermann und der Aquarellkasten – und so müssen sie sich ohne ihre Habseligkeiten in Barcelona durchschlagen und nach Menorca weiterreisen.

Eine andere Reise-Geschichte findet in London, genauer in dem Stadtteil Bayswater, statt, wo die aus Frankreich stammende Ich-Erzählerin drei Monate verbringt, weil sie Französisch „satt hatte“, und wo sie bei einer alten Dame wohnte. Doch eigentlich ist es nicht nur die Geschichte einer Reise, sondern auch die eines Wiedererkennens, einer Wiederbegegnung, denn die Erzählung hat einen Rahmen, der 15 Jahre nach dem Aufenthalt in London einsetzt: Eine gewisse Ethel Clark, die Tochter von Meagan Clark, erkennt die Erzählerin anlässlich einer Filmvorführung wieder, nachdem sie diese bei deren London-Reise kennengelernt hatte. Doch die Erzählerin kann sich an keine Meagan Clark erinnern…

Überhaupt scheinen Anne Serre die Widersprüchlichkeiten, die Aberwitzigkeiten und Bruchstellen des Alltags mindestens genauso zu interessieren wie die sprachlichen Feinsinnigkeiten, das Schreiben, die Kunst, die Literatur und der Film sowie das Reisen. Auf der einen Seite also der Alltag und seine Absurditäten, auf der anderen Seite die Möglichkeiten, aus eben diesem Alltag auszubrechen. Es ist die Kunst von Anne Serre, dass sie die Besonderheiten im Alltag erkennt, um daraus etwas Philosophisches, Nachdenkliches, Absurdes, Besonderes zu destillieren, was beim Leser Erstaunen, Überraschung, ein Lächeln oder vielleicht auch nur ein Schmunzeln erzeugt.

„Im Herzen eines goldenen Sommers“ ist eine sommerlich-leichte Lektüre, die man auch an kalten Wintertagen lesen kann. Wer Kurzgeschichten mag, wer sich für eine Mischung aus Absurdem und Feinsinnigem begeistert, liegt hier richtig.

Hervorzuheben ist auch die hervorragende Übersetzung von Patricia Klobusiczky.

Bewertung: ⭐⭐⭐⭐ 3,5/5

Anne Serre: Im Herzen eines goldenen Sommers. Übersetzt von Patricia Klobusiczky. Berenberg Verlag. 24 €.

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