Mariette Navarro schreibt mit „Über die See“ ein Buch über die Seefahrt, das einen nach einiger Zeit ganz in seinen Bann zieht. Eine Meditation auf die See, geschrieben aus der Perspektive der Seefahrer und vor allem einer Kapitänin, die eigentlich keine Abweichungen von den Regeln duldet, aber ein einziges Mal nur auf der Reise von den Azoren auf die Antillen den Ausbruch aus allen vorgegebenen Normen wagt – mit weitreichenden Konsequenzen.
Wir erleben in „Über die See“ die Schiffsreise eines Containerschiffs von kurz hinter den Azoren bis nach Übersee mit, doch beginnen wir von vorne: Die Kapitänin des Schiffes hat zu Beginn alles im Blick, denn sie hat die Neigung zur Schifffahrt von ihrem Vater ererbt und musste sich ihren Platz als Frau in dieser von Männern dominierten Domäne hart erarbeiten. Sie hat eine exponierte Position inne und darf sich keine Fehler erlauben, wenn sie ihren Platz auf der Brücke in der Steuerzentrale des fahrenden Metallungetüms, das sich seine Wege durch die Tiefen des Meeres bahnt, behalten möchte.
Die Besatzung, die sich mit jeder Fahrt ein wenig anders zusammensetzt, richtet bei dieser Fahrt einen merkwürdigen Wunsch an die Kapitänin: Ob sie denn für kurze Zeit ins Meerwasser hinab dürften, um darin zu schwimmen? Nur eine kleine Abkühlung als Abwechslung von der Plackerei der Matrosen und der Arbeit der Offiziere. Die sonst so akkurat arbeitende und penibel auf die Vorschriften pochende Kapitänin gibt seltsamerweise nach und lässt die Besatzung, die aus 20 Mann besteht, in einem der Rettungsboote ins salzige Nass hinab.
Dort vergnügen sich die Besatzungsmitglieder zunächst, doch schon bald gerät der Ausflug zu lang und etwas unheimlich und die Schwimmenden wünschen sich nichts sehnlicher, als wieder zurück ins – nun leere – Rettungsboot zu gelangen und von dort aus auf den trockenen und arbeitsamen Boden des Schiffes, von dem sie sich eine Auszeit gönnen wollten. Nach dem Ausflug ist nichts mehr wie zuvor. Nicht nur das Schiff scheint verändert, auch die Kapitänin und die Besatzung sind wie ausgewechselt nach diesem kurzen Intermezzo, das doch auf den ersten Blick kaum eine Bedeutung zu haben schien.
Es geschehen merkwürdige Dinge auf dem Schiff, die die gewohnte Ordnung aus den Fugen hebt: Offensichtlich ist nach dem Schwimmgang ein weiteres Besatzungsmitglied an Bord, ein Einundzwanzigster, der bei der Einschiffung noch nicht gezählt wurde. Diese Tatsache bringt die Kapitänin dermaßen aus der Fassung, dass sie von ihrem Vater fantasiert und halluzinierend mit Gegenständen in leeren Gymnastikräumen redet, als befände sich dort der blinde Passagier mit den durchsichtigen Augen, der einem furchteinflößenden und jungenhaften Gespenst gleicht.
Dazu kommt, dass das Schiff in einen unausweichlichen Nebel gerät und die Maschinen im Inneren nicht mehr richtig zu arbeiten scheinen, als hätte die Unterbrechung durch das Schwimmen eine fein abgestimmte und funktionierende Maschinerie aus der Fassung und den geordneten Bahnen gebracht. Die Matrosen beginnen, sich alte Geschichten und Seemannsgarn zu erzählen, denen zufolge der Vater der Kapitänin ebenfalls einst verschollen geglaubt worden wäre und erst nach Monaten wieder aufgetaucht sei, dann aber mit keiner Person mehr gesprochen habe.
Dieses unheilvolle Schicksal bleibt der Kapitänin und Tochter zwar erspart, und dennoch müssen sie und ihre Besatzung einiges an nicht immer logisch erklärbaren und teils ans Fantastische und Mystische grenzenden Zumutungen durchstehen, ehe sie aus der beängstigenden Fatamorgana entlassen werden, die die kurze Unterbrechung der Schifffahrt durch das Schwimmen im Meer hinter den Azoren ausgelöst zu haben scheint.
Am Ende hat noch fast jedes Schiff eine rettende Insel erreicht, und doch fiebert man in „Über die See“ bis zur letzten Seite mit der Kapitänin und ihrer Mannschaft, wie die verzwickte und zeitweise unabwendbar scheinende Lage ausgehen wird und ob sie überhaupt jemals ein Ende finden wird. Es ist das Geheimnis von „Über die See“, dass die Spannung langsam aufgebaut wird und dann zu einer steilen Spannungskurve ansteigt und aufrechterhalten wird, bis die Kurve am Ende steil wieder abfällt.
Mariette Navarro zieht die Leserinnen und Leser auf diese Weise in den Bann des Meeres, dessen Salz wir zu schmecken glauben, des Schiffes, dessen Schmieröl wir zu riechen glauben, und der Seeleute, deren Angst und Unbehagen und aufgewendete Anstrengung wir zu fühlen glauben. Es ist eine Ode an das Leben zur See, an das Wasser und die Wellen, aber auch an den Ausbruch aus der Ordnung, die unser erwachsenes Leben bestimmt.
Zugleich warnt uns „Über die See“ davor, welche Gefahren mit diesem Ausbruch verbunden sind, welche uralten, mythischen Kräfte ein solcher Verstoß gegen die Regelhaftigkeit in unserer Seele und in unserem Wesen wachzurufen imstande ist. Nicht zu Unrecht denkt man bei der Lektüre bisweilen an die Seewesen wie Poseidon, an alte Meeresgeschichten wie die Odyssee Homers, die auch von Navarro erwähnt wird, oder an Iphigenie zu Tauris, die mehrmals im Text des Werkes auftaucht.
Was mir an „Über die See“ bisweilen ein wenig Unbehagen bereitete, waren der etwas abrupte Nominalstil und die abgehackt wirkende Schreibweise der Autorin, die manchmal zu sehr Satzteile einfach aneinanderreiht, ohne sie durch Verben miteinander zu verbinden. Etwas mehr Füllmittel, die die Sprache leichter dahinschweben lassen, hätten dem Werk ein wenig der Schwere und der Behäbigkeit genommen.
Alles in allem ist „Über die See“ zwar keine Hochliteratur, aber doch ein spannendes Buch, das sich für alle Menschen mit Interesse für das Thema der Seefahrt oder solche, die es werden wollen, eignet. Es liest sich schnell und macht Spaß bei der Lektüre. Ein Buch, das Lust auf Meer und mehr Meer macht, vielleicht ja sogar einen Urlaub am Wasser. Mir hat es Lust auf mehr Meer gemacht, sodass ich nun den Klassiker „Moby Dick“ lese.
Bewertung: ⭐⭐⭐⭐ 4/5
Mariette Navarro: Über die See. Kunstmann Verlag. 20 €.