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„Der Fall“ von Albert Camus

„Der Fall“ ist der letzte und laut Sartre „am wenigsten verstandene“ Roman von Albert Camus. Nun erschien er in einer Neuübersetzung von Grete Osterwald bei Camus’ deutschem Verlag Rowohlt – ein Grund, sich ein weiteres Mal mit diesem komplexen Text auseinanderzusetzen, der die Gedanken eines französischen ehemaligen Anwalts und „Bußrichters“ im Hafenviertel Amsterdams ins Zentrum stellt.

Eine Besonderheit dieses Romans, die ihn manchmal auch schwer zu lesen macht, ist es, dass wir den Überlegungen des Erzählers hier auf ungefilterte Weise folgen. Wir befinden uns in der Amsterdamer Kneipe „Mexico City“, also in einem eher zwielichtigen Milieu, in dem der Protagonist und Erzähler, dessen Name zunächst ungenannt bleibt, dann aber doch irgendwann fällt (Jean-Baptiste Clamence), seine Reflexionen und seine Lebensgeschichte mit einem Gegenüber teilt, wobei der Gesprächspartner aber nicht zu Wort kommt.

Es handelt sich also um ein rein fingiertes Gespräch, das so angelegt ist, dass der Leser oder die Leserin sich als vom Sprechenden angesprochen wahrnehmen kann, da dieser in einer teils philosophisch-nachdenklichen, teils erschreckend-zynischen, teils belehrenden Weise über sein Leben nachdenkt und dabei von einem Thema zum nächsten wechselt. Insgesamt ist der Ton der Gedankengänge eher düster und etwas deprimierend und die Sicht des Erzählers auf das Leben ist desillusioniert bis sarkastisch-zynisch.

Man kann eine solche Haltung für aufgeklärt und klug halten, manchmal ist es allerdings auch anstrengend, solchen etwas ausufernden monologisierenden Ausführungen über mehrere Seiten zu folgen, wenn dazu noch der Ton eher pessimistisch ist. Ein wahrer Philosoph muss vielleicht Pessimist sein, um ernst genommen zu werden – und es gibt keinen Zweifel daran, dass Camus ein Philosoph war, ein Philosoph des Lebens, der Lebensbeobachtung und des Absurden im Leben.

Sein Roman „Der Fall“ sollte eigentlich in der Novellensammlung „Novellen des Exils“ erscheinen, was passt, da der Protagonist der Erzählung im Amsterdamer Exil lebt. Doch dann wurde die 1956 erschienene Erzählung so lang, dass sie als eigenständiges Werk veröffentlicht wurde, das sich in Camus’ Philosophie des Absurden fügt. Camus war, auch wenn er sich selbst nicht unbedingt so einordnete, Existentialist und vertrat die Auffassung, dass das Leben keinen Sinn hat, sondern von Absurdität geprägt ist.

Camus’ frühe Werke wie „Der Fremde“ stehen den Lehren des Existentialismus sehr nahe, so war „Der Fremde“ laut Sartre das bedeutendste Werk dieser philosophischen Strömung. Doch Camus’ Philosophie grenzt sich auch vom Existentialismus ab, was letztlich in der „Philosophie des Absurden“ mündet und zum Bruch mit Jean-Paul Sartre führte. So teilt Camus nicht die Grundannahme der Existentialisten, dass die Existenz der Essenz vorausgehe. Camus war überzeugt, dass das menschliche Streben in einer Welt des Absurden und ohne Sinn letztlich vergeblich sei, aber nicht hoffnungslos sein müsse.

So propagiert Camus einen neuen Menschen, der unabhängig von einem Gott und dessen Gnade auf sich alleingestellt in der Revolte und Auflehnung neue Möglichkeiten entwickelt. Vielleicht ist der Erzähler Clamence aus „Der Fall“ ein Exempel für eben diese Art des menschlichen Strebens nach Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Revolte, danach, das Leben zu ergreifen, ohne sich um metaphysische Fragen zu sorgen.

Denn Clamence hat mehrere „chutes“, mehrere „Stürze“ (in Anspielung auf den Titel „Der Fall“ bzw. frz. „La chute“) hinter sich, die ihn in eine Sinnkrise stürzen ließen. Zunächst arbeitete der Erzähler als Anwalt für benachteiligte Menschen wie Witwen, Waisen, Armen etc. und versuchte, den Menschen zu helfen, indem er sie vor Gericht vertrat. Sein Leben in Paris schien perfekt, er führte ein angesehenes Leben als Anwalt. Auch im Alltag, so stellt er es in der Amsterdamer Kneipe im Rückblick dar, war er hilfsbereit, wenn er zum Beispiel in Paris blinden Menschen über die Ampel half oder seinen Platz im Bus räumte.

Doch dann kam der Moment des ersten „Falls“: Eines Nachts überquerte Clamence die Brücke Pont-Royal in Paris und wohnte einer Szene bei, bei der er entgegen seiner üblichen Gewohnheit untätig blieb. Er sah, wie eine junge Frau sich von einer Brücke warf und Suizid beging und ließ dies einfach geschehen, ohne selbst Hilfe zu leisten oder Hilfe zu holen. Er ging weiter, tat nichts, blieb tatenlos. Er lebte nach dieser Begebenheit weiter, als ob nichts geschehen wäre, und doch ist sein Leben danach nicht mehr so, wie es zuvor gewesen war. Ihn plagt danach ein schlechtes Gewissen, denn er wird sich bewusst, dass er deswegen keine Hilfe leistete, weil er sein eigenes Leben hätte aufs Spiel setzen müssen.

Etwas später geschieht ein weiterer Vorfall: Clamence gerät in Streit mit einem Motorradfahrer, den er an einer Ampel nicht überholen kann. Der Motorradfahrer beleidigt ihn und daraufhin kommt es fast zu einer kleinen Schlägerei. Clamence möchte den Motorradfahrer angehen, doch ein anderer Mann hält ihn davon ab. Während sich der eingreifende Mann über Clamence’ Verhalten empört, schlägt der Motorradfahrer Clamence von hinten auf den Kopf und fährt ab. Diese Szene lässt den Erzähler voller Selbstzweifel und Verbitterung zurück. War er vielleicht gar nicht der wohltäterische Held, als den er sich selbst gern empfunden und dargestellt hat?

Der Erzähler gerät in eine Krise und muss sich eingestehen, dass er selbst ein scheinheiliger Wohltäter war, der nicht besser ist als alle anderen. Überall scheint er nun das Lachen zu hören, das ihn seit dem Vorfall auf dem Pont-Royal zu verfolgen scheint. Auch über seinen Arbeitsalltag als Anwalt kann Clamence nun nur noch lachen, denn sie erscheint ihm scheinheilig. Er versucht jetzt, seine Existenz als Anwalt zu zerstören, indem er unkorrekte Bemerkungen fallen lässt, doch die Leute sehen darin eher Scherze. Clamence versucht, sich in die Ausschweifungen und Exzesse zu stürzen, doch auch das rettet ihn nicht vor seiner Vergangenheit,

Als der Krieg beginnt, flieht Clamence nach kurzen Überlegungen, der Résistance beizutreten, aus Paris nach London. Er flieht über Nordafrika nach London, wird aber in Nordafrika von den Nationalsozialisten aufgegriffen und in ein Konzentrationslager gesperrt, wo ein Freund von ihm stirbt. In der Gegenwart der Erzählung lebt Clamence im Amsterdamer Exil, in das er sich von Paris aus begeben hat, um nicht länger mit der lästigen, unvergänglichen und unerbittlichen Vergangenheit konfrontiert zu werden, die ständig an ihm zu nagen scheint.

Der Erzähler, Clamence, ist ein mehrfach gestürzter, mehrfach gebrochener und nicht richtig geheilter, ja vielleicht depressiver Mann, der sehr an seinen Erinnerungen hängt und diese auf keinen Fall loslassen möchte. Die Vergangenheit ist immer Teil eines Lebens und eines Menschen, doch manchmal muss man auch den Blick nach vorn richten, um weiterleben zu können. Aus diesem Grund fand ich es manchmal etwas schwierig, mich längere Zeit in die Perspektive des Erzählers zu begeben und ihm zu folgen, ohne mich unmittelbar selbst in seine Stimmung und Verstimmtheit versetzt zu fühlen.

Eine Leseempfehlung für alle, die gern philsophieren, nachdenken, über das Leben nachsinnen, und für alle, die nicht vor pessimistischen Gedankengängen zurückscheuen!

Dieses Buch ist ein Klassiker, den man gelesen haben sollte, wenn man sich mit Albert Camus befasst, denn Camus, das ist nicht nur „Der Fremde“ und „Die Pest“. Die Konstruktion des Romans ist auf jeden Fall gelungen und erinnert mit den fünf Kapiteln an den Aufbau eines klassischen Dramas mit seinen fünf Akten. Camus ist unbestreitbar ein vollendeter Meister der Form, der auch sein Werk gekonnt durchstrukturiert hat. Das Werk Camus’ ist in Zyklen organisiert, die jeweils aus einem Roman, einem Theaterstück und einem Essay bestehen.

Wer so strukturiert denkt, baut auch Romane nach einem Schema und Spannungsbogen auf. Im Fall von „Der Fall“/ „La chute“ ist der Spannungsbogen eher ein Bogen der nach unten verläuft, durchzogen von den permanenten Auf- und Ab-Bewegungen der dahinfließenden Gedankengänge des Erzählers. Nach unten deshalb, weil der Erzähler mit seinen mehrfachen „Stürzen“ eine Krise durchmacht, die ihn aus den Höhen der Gesellschaft in eine Amsterdamer Hafenkneipe befördert, in der er nun über sein Leben sinniert.

Bewertung: ⭐⭐⭐⭐⭐ 5/5

Albert Camus: Der Fall. Aus dem Französischen von Grete Osterwald. Rowohlt Verlag. 24 €.

Das der Rezension zugrunde liegende Werk wurde mir als Rezensionsexemplar vom Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen herzlichen Dank dafür! Die Tatsache, dass es sich um ein Leseexemplar handelt, beeinflusst meine Bewertung nicht.

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