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„Vom Glück des poetischen Lebens“ von Wolfgang Matz

Erst dieses Jahr bin ich auf das unbedingt lesenswerte Alterswerk des französischen Dichters Philippe Jaccottet (Clarté Notre Dame, 2021, Wallstein Verlag, aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz) gestoßen, der 2021 verstorben ist. Nun folgte Vom Glück des poetischen Lebens des zwischen den Kulturen Frankreichs und Deutschlands vermittelnden Literaturwissenschaftlers und Übersetzers Wolfgang Matz, ein literarisch anspruchsvoller Band über die letzten Begegnungen des Autors mit den inzwischen verstorbenen französischen Dichtern André du Bouchet, Yves Bonnefoy und Philippe Jaccottet, die alle miteinander befreundet waren und die Poesie als eine Lebensart ansahen.

„Vom Glück des poetischen Lebens“, dieser Titel ist mit Blick auf Dichter wie Philippe Jaccottet wortwörtlich zu verstehen, denn dieser schrieb über die Poesie, dass „die Arbeit des Schreibens und die Form des Lebens, die Art wie man sich im Leben verhält, untrennbar miteinander verbunden sein müssen“. In Wolfgang Matz‘ Band geht es um genau die Frage, inwiefern die drei in den Blick genommenen Dichter André du Bouchet, Yves Bonnefoy und Jaccottet, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist, ihr Leben, ihre Form zu existieren, mit der Dichtung in Harmonie gebracht hatten oder wenigstens den Versuch dazu unternahmen.

Dieser Band von Wolfgang Matz widmet sich den drei Dichtern, indem er die Gespräche und Begegnungen mit den Dichtern aus der Rückschau betrachtet, die sich durch die gemeinsame Arbeit an Übersetzungen und literarischen Werken ergab, ein Unterfangen, das leicht Gefahr laufen könnte, zu einer Art nachträglicher Verklärung oder reiner Grabrede bzw. zu einem Nachruf zu werden. Doch Matz umschifft diese Gefahren geschickt, indem er den Fokus weniger auf den Tod legt als auf das Leben und die letzte Wirkenszeit der drei Dichter, die auch im Alter noch produktiv waren, auch wenn das wie bei Jaccottet zunächst nicht so vorgesehen war, da er als junger Mann verkündet hatte, das Alter und den Verfall nicht besingen zu wollen.

Und doch entstand bei Jaccottet Clarte-Notre Dame, ein Text, der den Titel des gleichnamigen Dominikanerinnenklosters in der Nähe von Grignan trägt, des Wohnortes von Philippe Jaccottet. In Grignan befand sich die Landschaft, befanden sich die Steine, die Berge, die Orte, die Gärten, der Himmel, die der Dichter in seiner Lyrik beschreibt und beinahe ins Mystische verklärt, auch wenn er diesen Begriff nicht gern für seine Dichtung in Anspruch nehmen wollte. Und doch findet sich in seinem letzten Werk der Ausdruck „le sacré“, das Heilige. Das letzte Buch, Clarté-Notre Dame, wurde 2020, entgegen gegenteiliger Bekundungen, dass Jaccottet nichts mehr veröffentlichen werde, in der Zeit der Pandemie geschrieben und kurz nach seinem Tod am 24. April 2021 veröffentlicht.

André du Bouchet starb bereits am 19. April 2001. Mit ihm kann Wolfgang Matz nur auf eine Begegnung am 21. April 2000 zurückblicken, die später durch die Hand Jaccottets, des Freundes, zu Literatur, besser gesagt Poesie, werden sollte (Truinas, 21. April, Edition Lyrik Kabinett). Nach einem Besuch bei Jaccottet und seiner Frau Marie, der in dem Nachbarort Grignan wohnte, getrennt von du Bouchets Wohnort nur durch die Montagne de la Lance, stattete der Übersetzer Matz André du Bouchet einen Besuch ab, der ihn nach Truinas führte. Dort hatte man einen Blick auf den Mont Ventoux, den Francesco Petrarca laut seinem Brief bestiegen hat.

Die Werke André du Bouchets hat 1968 Paul Celan in Vakante Glut ins Deutsche übersetzt, daneben existiert von den Worten, die „über die weiße Seite rollen wie Kieselsteine über den schroffen Abhang des Ventoux“ (Matz 2021: 7) keine Übersetzung außer einer inzwischen nur noch antiquarisch erhältlichen Übersetzung der Edition Lyrik Kabinett. André du Bouchet konnte sich – ähnlich wie Jaccottet -, so schreibt Matz, an der Landschaft erfreuen, an einem Quittenbaum im Garten, an frisch gefallenem Schnee, über den er sich wie ein Kind freute.

Heißt Poesie und das Leben für die Kunst der Dichtung nicht, sich die Zeit der Kindheit zu bewahren und jenen „wahren Ort“ zu suchen, den andere Erwachsene, die prosaischer denken und leben, nicht mehr zu suchen wagen, da sie aus Resignation, Verzweiflung oder Gewohnheit aufgegeben haben? Auf diese Weise kann die Quittenbaumblüte im idyllischen Garten André du Bouchets zu einem Sehnsuchtsort, zu einer dichterischen Utopie werden, ebenso wie ein Kuchen und eine Tasse Tee, die an die Madeleine von Marcel Proust denken lassen, in welchen er seine verloren geglaubten Erinnerungen wiedergefunden hat.

Wolfgang Matz berichtet in seinem Band über die drei französischen Dichter nicht nur von deren Suche nach dem idealen Ort und dem dichterischen Leben, sondern auch von den Gesprächen mit diesen, von den mit ihnen unternommenen Wanderungen und Spaziergängen in der Landschaft, in welcher sie sich zu leben niedergelassen hatten, sowie von Jaccottets Ferne vom Literaturbetrieb. Yves Bonnefoy hingegen gab Lesungen, nahm an Diskussionen teil, reiste nach Berlin und bezeichnete die Signaturen und Widmungen nach seinen Lesungen als „Kundenservice“ („service après-vente“), eine Anekdote, die Matz mit sichtlichem Vergnügen an die Leser weitergibt.

Auch Yves Bonnefoy, dessen erster Gedichtband 1953 unter dem Titel Douve in Bewegung und regungslos erschien, widmete sich im hohen Alter noch einmal der Dichtung, entgegen aller Wahrscheinlichkeiten: Er, dessen Werk unfassbar breit ist und neben Dichtung auch Essays und Monographien zu Künstlern und Schriftstellern umfasst, nahm vor seinem Tod am 1. Juli 2016 ein Gedicht wieder zur Hand, welches er 1964 begonnen hatte und seitdem immer mehrmals und zum letzten Mal 2009 wiederaufgegriffen hatte, ehe er sich 2015 sagte: „Jetzt ist es Zeit.“

Der rote Schal ist das letzte Werk, das Alterswerk Yves Bonnefoys, in dem er die Essenz seiner Dichtung zusammenfasst und zu dem Kern seines Werks vordringt. Mit der Erfahrung eines gelebten Lebens schreitet er darin zu einer poetologischen Selbstreflexion, die sein bisheriges Schreiben in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt. Er will aber nicht anderen seine Poetologie erklären, indem er sie in Der rote Schal erkundet, sondern sich selbst über seine Prämissen in der Dichtkunst klar werden. So hat sich Yves Bonnefoy zuletzt noch einmal seiner selbst vergewissert, da es „Zeit war“, indem er bis zu seiner Kindheit, zu der Landschaft seiner ersten Jahre und zu Vater und Mutter zurückging.

Wolfgang Matz gelingt es, mit „Vom Glück des poetischen Lebens“, den Leserinnen und Lesern in einer glasklaren und geschliffenen Sprache, die selbst mehr Poesie als Prosa ist, drei französische Lyriker näherzubringen, die zwar leider bereits verstorben sind, aber deren Werke fortbestehen werden. Philippe Jaccottets Werke sind 2014 in einer Pleiade-Ausgabe erschienen, was die Nobilitierung für einen lebenden Autor in Frankreich bedeutet. Die literarische Bewandertheit Wolfgang Matz‘ und sein Wunsch, zwischen den Kulturen Frankreichs und Deutschlands eine übersetzende Mittlerrolle einzunehmen, wird in diesem Band deutlich.

Die Rechnung geht auf, denn alle drei vorgestellten Autoren stehen einem nach der Lektüre nicht nur lebhaft vor Augen, man bekommt zudem Lust, sich in das Werk der Genannten einzulesen und einen Eindruck von ihrem Schaffen zu gewinnen. Mich interessieren vor allem Philippe Jaccottet und André du Bouchet, die beide auf dem Land wohnten und ihre Landschaftseindrücke, den Garten, den Himmel, die Steine, die Bäume, zu Poesie verarbeiteten. Doch warum nicht auch einmal Yves Bonnefoy lesen, der zu Beginn seines ersten Werkes Hegel zitierte und damit das Geistige in das Zentrum der Dichtung stellte?

Leben und Poesie gehörten für André du Bouchet, Yves Bonnefoy und Philippe Jaccottet zusammen, die erfahrbare Welt war Mittel und Wegbereiterin für die Poesie – und doch ist Dichtung, wie Wolfgang Matz am Ende des Bandes erwähnt, mehr als nur eine Verarbeitung des Erfahrenen, ein „Darüber-hinaus“. Mir hat die kurze Einführung in das Leben und Wirken dreier französischer Dichter sehr gut gefallen, da sie zugänglich ist und dabei doch Tiefgang unter Beweis stellt – man bekommt Einblick in dichterische Lebensläufe, die dichterische und übersetzerische Tätigkeit, liest einige tiefe Gedanken, ohne dass die Schwelle zu hoch wäre.

Ein literarischer Essay, wie es ihn häufiger geben könnte, auch wenn der Band etwas zu knapp ist und man gern mehr lesen würde, zum Beispiel über das frühere Werk, das teils noch unübersetzt ist.

Bewertung: ⭐⭐⭐⭐⭐ 5/5

Wolfgang Matz: Vom Glück des poetischen Lebens. Erinnerung an André du Bouchet, Yves Bonnefoy und Philippe Jaccottet. Wallstein Verlag. 12,90 €


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