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Literarische Neuerscheinungen für Proust-Liebhaber/innen

2021 feierten wir das 150. Geburtstagsjubiläum des Ausnahmeschriftstellers Marcel Proust, am 18. November 2022 erinnern wir uns an seinen 100. Todestag. Dieses zweifache Jubiläum nehmen wir zum Anlass, um auf die Neuerscheinungen rund um Marcel Proust und sein Werk hinzuweisen, in deren Genuss Proust-Liebhaber*innen und solche, die es werden wollen, kommen können. Wir wollen dabei auch einige französischsprachige Hinweise unterbringen, da Proust vor allem eins ist: ein unumgängliches Monument in der französischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts.

Luzius Keller: Das Marcel Proust-Alphabet.

Marcel Proust hat sich in seinem Werk, À la Recherche du temps perdu, auf spielerische Weise des Alphabets bedient. Der Proust-Forscher Luzius Kellers, der bereits Proust lesen und Proust 1913 veröffentlichte und dessen Werke teils ins Französische übertragen wurden, nimmt das Alphabet nun als Ansatz, um auf über 900 Seiten über Proust und sein Œuvre zu schreiben.

Dabei lernen wir die Menschen aus Marcel Prousts Leben kennen, seine Familie, seine Freunde und Bekannten, aber wir erfahren auch zahlreiche Dinge über die Sprache seiner Werke, die Pointen und die Sätze, die in vielen Zitaten aufgegriffen werden. Außerdem treten die Figuren aus dem Werk Prousts auf – von Swann über Charlus bis hin zu Elstir – und die den Proust-Kennern bekannten Szenen aus der Recherche – Begegnungsszenen, Badeszenen, Voyeurszenen – kommen erneut zur Geltung.

Ein wahrer Wissensschatz für alle, die sich für Marcel Proust und die Recherche du temps perdu interessieren. Einziger Wermutstropfen: der sehr stolze Preis.

Friedenauer Presse. 68 €.

Marcel Proust: Die fünfundsiebzig Blätter. Und andere Manuskripte aus dem Nachlass, hrsg. von Nathalie Mauriac Dyer.

Bekanntermaßen durchlief das Hauptwerk Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit im Laufe des Lebens von Marcel Prousts verschiedene Stadien: Aus Entwürfen und Skizzen in Heften (cahiers) wurden erste formulierte Szenen, die noch nahe an der Realität waren. In finalen Fassung der Suche nach der verlorenen Zeit wurden die realen Namen und die Ähnlichkeiten zu echten Personen durch fiktive Namen transponiert.

In Frankreich gelang 2018 eine kleine Sensation, als im Nachlass des Proust-Forschers und Verlegers Bernard de Fallois bislang unveröffentlichte Blätter mit ersten Entwürfen für die Suche nach der verlorenen Zeit gefunden wurden. 2021 bei Gallimard veröffentlicht, enthalten diese Fünfundsiebzig Blätter, die am 18. Januar 2023 bei Suhrkamp erscheinen, das erste Stadium für zahlreiche Szenen, die sich später in veränderter Weise in der finalen Fassung des Werkes wiederfinden sollten.

Der Reiz dieser fünfundsiebzig Blätter liegt darin, dass man anhand von diesen das Entstehen des Werkes nachvollziehen kann und einen Einblick in die ursprüngliche, im Werden begriffene Fassung des Werkes bekommt. Diese Fassung ist noch vergleichsweise unbearbeitet, roh und teilweise durch Brüche und Inkohärenzen gekennzeichnet. Auch Proust musste erst die literarischen Mittel finden, mit denen er seiner Stimme Ausdruck verleihen konnte, und sein zentrales Thema, die Erinnerung, erkennen, die später sein Werk bestimmen sollte.

Aus dem Französischen von Andrea Springler und Jürgen Ritte. Suhrkamp Verlag. 28 €. Erscheinungsdatum: 18. Januar 2023.

Marcel Proust: À la recherche du temps perdu I et II. Coffret deux volumes.

Gallimard verlegt anlässlich des 100. Geburstags von Marcel Proust eine neue und limitierte (französische) Ausgabe von À la recherche du temps perdu, die sich auf das Wesentliche beschränkt. Im Gegensatz zu der vierbändigen Ausgabe in derselben Reihe (der Pléiade) enthält diese Ausgabe weder die Anmerkungen der Kommentatoren noch die Entwürfe für das finale Werk. Es soll hier der reine (aber nicht gekürzte) Text in zwei Bänden verlegt werden, sodass eine handliche Ausgabe zustandekommt, die man zum Beispiel auf Reisen oder ins Café mitnehmen kann, um unterwegs zu lesen. Im praktischen und hübschen Schuber erhält man den wichtigsten französischen Roman des 20. Jahrhunderts in französischer Sprache, reduziert auf das Wichtigste.

Éditions Gallimard. 125 €.

Andreas Isenschmid: Der Elefant im Raum.

Der Literaturkritiker Andreas Isenschmid hat einen detaillierten Essay über das Verhältnis Marcel Prousts zu seiner jüdischen Herkunft – seine Mutter war jüdisch, sein Vater katholisch – und zum Jüdischen in seinem Werk geschrieben. Damit spricht Isenschmid ein Thema an, das lange Zeit kaum Interesse fand.

Laut Isenschmid könnte es sein, dass das Jüdische an Proust deshalb lange unbeachtet blieb, weil es manch einem unlieb war, dass ausgerechnet jener Mann, der die französische Literatur in neue Höhen brachte, ein Jude war. Das Verhältnis Prousts zum Judentum sei ambivalent gewesen: Er habe sich weder als Jude noch als Nicht-Jude gesehen.

In seinem Werk schwinge das Jüdische überall mit, so die These Isenschmids in seinem Werk, die der Autor mit zahlreichen Zitaten ausführlich belegt. Die Suche nach der verlorenen Zeit ist laut Isenschmid ein jüdischer Roman, unter anderem deswegen, weil es darin zwei jüdische Helden gibt, die von Anfang bis Ende im Text vorkommen.

Isenschmid ist der Ansicht, Proust habe sowohl seine homosexuelle als auch seine jüdische Wesensart abgespalten und auf die Figuren seines Romans übertragen. So wird die Literatur zur Durchgangstür für die verschwiegene, verdrängte Realität.

Hanser Verlag. 26 €.

Ulrike Sprenger: Das Proust-ABC.

Offensichtlich bietet es sich an, die ausufernde, überbordende Welt aus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in eine alphabetische Ordnung zu bringen. Denn bevor Luzius Keller sein Proust-Alphabet verfasste, hat Ulrike Sprenger ein ähnliches Vorhaben realisiert, auch wenn ihr Proust-ABC etwas weniger umfangreich und weniger umfassend gelang.

Dafür hat Sprengers Werk den Vorzug, dass es von A bis Z auf die Suche nach neue Erkenntnissen zu Prousts Werk geht und dabei manchen ungewöhnlichen Eintrag enthält, der neue Verbindungen herstellt. Um nur einige Lemmata zu nennen: ‚Apfelbäume‘, ‚Austern‘, ‚Birne‘, ‚Botanik‘, ‚Eindruck, erster‘, ‚Eisenbahn‘, ‚Farben‘, ‚Firnis‘ etc. Auch wichtige Namen aus dem Werk Prousts finden sich unter den Einträgen, so etwa Gilberte, Guermantes, Swann.

Für Entdecker*innen, die sich auf Erkundungstour im Proust-Universum begeben wollen.

Vorwort von Alexander Kluge. Reclam Verlag. 12 €.

Marcel Proust: Der geheimnisvolle Briefeschreiber, hrsg. von Luc Fraisse.

Dieses Werk aus der Feder Marcel Prousts war 2018 ein Ereignis und eine kleine Sensation im französischen Feuilleton. Denn Der geheimnisvolle Briefschreiber (frz. Le Mystérieux Correspondant) enthält eine Reihe früher Erzählungen des junge Marcel Proust, die um 1890 etwa zur gleichen Zeit entstanden wie Freuden und Tage (frz. Les Plaisirs et les Jours).

Die Erzählungen wurden 2020 in den Éditions de Fallois verlegt, aus dem Nachlass des bereits genannten Bernhard de Fallois, der einst eine Promotion über Marcel Proust begonnen hatte und dadurch Zugang zu einigen Texten des Schriftstellers erhalten hatte, die nach Aufgabe seiner Promotion in Vergessenheit geraten waren.

In den frühen Erzählungen geht es um verklausulierte homoerotische Begegnungen, die sich durch den Band zu ziehen: Ein mysteriöser Verehrer entpuppt sich als Verehrer; ein Hauptmann erinnert sich an eine homoerotische Erfahrung, ohne sie zu erkennen; eine Fee beschert dem Protagonisten einer Erzählung als Ausgleich für eine Erkrankung eine künstlerische Begabung. Marcel Proust übt in diesen Erzählungen sein erzählerisches Können ein, sodass man nicht dasselbe erzählerische Talent wie im Hauptwerk erwarten darf.

Und doch ist interessant, dass die frühen Texte, in denen vergleichsweise offen das Thema der Homosexualität zur Sprache kommt, nie veröffentlicht wurden. Befürchtete Proust einen Skandal, provoziert durch zu offen homoerotische Texte?

Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag. 28 €.

Jean Giraudoux: In Marcel Prousts Welt.

Jean Giraudoux, 1882 geboren, war in der Zwischenkriegszeit vor allem als Dramatiker und Schriftsteller bekannt und feierte mit seinen weltweit gespielten Dramen Erfolge. 1919 widmete er sich in einer französischen Kunstzeitschrift einem damals noch unbekannten Autor, dessen erstes Werk gerade in zweiter Auflage bei Gallimard erschienen war: Marcel Proust. 1913 war Du côté de chez Swann zum ersten Mal veröffentlicht worden, 1919 machte Proust einen zweiten Versuch.

Damals begann Giraudoux selbst mit Erzählungen seine literarische Karriere, während er 1919 zugleich als Diplomat an den Friedenserzählungen in Versailles teilnahm. Für den zweiten Band seines Werkes, A l’ombre des jeunes filles en fleurs, der eben in jenem Jahr 1919 erschien, sollte Proust den Prix Goncourt erhalten. Giraudoux bewunderte Proust, ebenso wie Proust diesen bewunderte. „In hundert Jahren erst wird man erkennen, wie großartig Prousts Werk ist!“, schreibt Giraudoux nach erneuter Proustlektüre im September 1921 an seinen Freund Paul Morand.

100 Jahre später erscheint Giraudoux‘ nur noch schwer zugängliche Hymne auf Marcel Proust aus den Feuillets d’art zum ersten Mal auf Deutsch in einer luxuriösen zweisprachigen Ausgabe

Aus dem Französischen von Jürgen Litte und Catherine Livet. Friedenauer Presse. 25 €.

Bernd-Jürgen Fischer: Handbuch zu Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

Als Ergänzung zu Bernd-Jürgen Fischers Übersetzung von Marcel Proust Auf der Suche nach der verlorenen Zeit dient dieses Handbuch, das nun zum ersten Mal als Taschenbuch erscheint. Darin gibt Fischer zahlreiche Informationen über Leben und Werk Marcel Prousts, sodass die Lektüre und das Verständnis des Werkes erleichert wird.

Man erhält zunächst eine Kurzbiographie Marcel Prousts, gefolgt von einer Darstellung der frühen Werke. Ein zentraler Teil widmet sich der Suche nach der verlorenen Zeit, etwa der Rezeption, der Erstausgabe und den Übersetzungen. Ergänzt wird das Handbuch durch ein Namensverzeichnis, ein Titel- und ein Themenverzeichnis sowie 36 Abbildungen.

Bernd-Jürgen Fischer eröffnet den Leser*innen Prousts mit diesem Handbuch die ganze Welt der Suche nach der verlorenen Zeit, ihre Personen, Motive und Themen. Besonders interessant ist das Handbuch für Personen, die auch die Reclam-Übersetzung von Bernd-Jürgen Fischer verwenden.

Diese Übersetzung ist inzwischen in einem Schuber mit 3 Bänden (für 44 €) erhältlich. Die Alternative bleibt die Frankfurter Ausgabe aus dem Suhrkamp Verlag in der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens, revidiert durch Luzius Keller.

Reclam. 18 €.

Marcel Proust: Der Briefwechsel mit Reynaldo Hahn, hrsg. von Bernd-Jürgen Fischer.

Marcel Proust war ein ausgezeichneter Stilist, nicht nur in seinen fiktiven und literarischen Werken, sondern auch in seinen Briefen. Deshalb lohnt es auch seine Briefwechsel mit Familie und Freunden zu lesen, die nicht nur stilistisch hervorragend geschrieben sind, sondern auch bisweilen sensibel, humorvoll, kreativ und einfallsreich sein können.

Der Briefwechsel mit dem Komponisten Reynaldo Hahn ist deshalb besonders, weil Hahn ein lebenslanger Freund Marcel Prousts war und nach seiner Mutter die wichtigste Person in dessen Leben darstellte. Zeitweilig war Reynaldo Hahn auch der Geliebte von Proust. Die beiden lernten sich 1894 bei einer Musik-Soirée kennen und waren sofort voneinander begeistert.

Die von Bernd-Jürgen Fischer besorgte und kommentierte Ausgabe enthält den vollständigen erhaltenen Briefwechsel, der aus 220 Briefen besteht, die größtenteils von Proust stammen. Über Reynaldo Hahn nahm Marcel Proust am gesellschaftlichen Leben jenseits seines Schlafzimmers teil, in dem er in seinen späten Jahren aufgrund von Krankheit die meiste Zeit verbringen musste.

So erhält man auf über 500 Seiten in einer schön gemachten und illustrierten Ausgabe Einblicke in die Persönlichkeit Prousts, aber auch in das soziale und künstlerische Leben der Zeit.

Reclam Verlag. 25 €.

Marcel Proust: Lettres à Horace Finaly, hrsg. von Thierry Laget und Jacques Letretre.

Ein weiterer Briefwechsel, herausgegeben von Thierry Laget auf Französisch, ist derjenige mit Horace Finaly. Finaly war im Lycée Condorcet in Paris ein Klassenkamerad und Freund Marcel Prousts und wurde später Direktor der Banque de France. In dieser Funktion war er ein links ausgerichteter Banker, der sich sehr für Kultur interessierte.

Im Zentrum des Briefwechsels steht eine kleine Tragikomödie, die Proust mit seinem ehemaligen Sekretär erlebte. Proust bat Horace Finaly darum, diesen Sekretär, der eines der Vorbilder für die künftige Albertine in der Suche nach der verlorenen Zeit war und der drei Jahre, von 1919 bis 1921 bei ihm gelebt hatte, nach Brasilien zu schicken, da ihm seine Eskapaden teuer zu stehen kamen.

In Brasilien angekommen, benimmt sich der junge Mann namens Henri Rochat in der Bankfiliale, in der er angestellt wird, daneben, während er zugleich weiterhin Geld von Proust erhält. Einige Jahre später stirbt er an einer Krankheit in Nordbrasilien.

Der Briefwechsel zeigt die Sensibilität, den Witz und die Komplexität von Marcel Proust, herausgegeben von Thierry Laget und Jacques Letertre.

Marcel Proust: Essais, hrsg. von Antoine Compagnon.

In der Reihe Pléiade erschien dieses Jahr eine neue Ausgabe der Schriften von Marcel Proust, die sich unter dem Titel Essais (frz. ‚Versuche, Essays‘) zusammenfassen lassen. Dazu gehören einerseits nach dem Herausgaber Antoine Compagnon die Schriften vor 1911, andererseits die Pastiches et mélanges, also jene Versuche, bei denen den Schreibstil anderer Autoren imitierend nachahmte.

Aber auch die Schrift Contre Sainte-Beuve, die eine literaturkritische Sammelschrift Marcel Prousts ist und posthum erschien, wird zu den Essais gezählt. In Contre Sainte-Beuve greift Proust die Ansicht des berühmten Literaturkritiker Sainte-Beuve aus dem 19. Jahrhundert an, das Werk eines Autors reflektiere vor allem sein Leben und man könne durch das Leben das Werk erklären.

Proust attackierte den Biographismus und forderte an dessen Stelle eine formalistische Herangehensweise, d. h. eine Untersuchung der stilistischen Eigenheiten eines Autors, bei der man die äußeren Gegebenheiten wie das Leben eines Autors oder einer Autorin vernachlässigen sollte. In Contre Sainte-Beuve formuliert Proust en passant seine eigene Poetik, die auch für die Suche nach der verlorenen Zeit Gültigkeit besitzt.

Daher ist es für Proust-Interessierte durchaus empfehlenswert, einen Blick in diese literaturkritische Schrift zu werfen, ob auf Französisch oder in der Frankfurter Ausgabe auf Deutsch (Gegen Sainte Beuve, antiquarisch).

Éditions Gallimard. 75 €.

Für alle, die des Französischen mächtig sind, empfehle ich diesen Podcast von France Culture, in dem zahlreiche Facetten des Proust’schen Œuvres aufgegriffen und im Detail besprochen werden: Proust, le podcast.

Außerdem gibt es in Paris aktuell eine Ausstellung zu Marcel Proust: In der Bibliothèque nationale de France kann man noch bis 22. Januar 2023 die Ausstellung Marcel Proust – la fabrique de l’œuvre besuchen (täglich, außer Montag).

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