Ralf Rothmann, geboren 1953 in Schleswig, erhielt für seine literarischen Werke zahlreiche Literaturpreise. Er hat sich durch Romane mit Schauplatz im Ruhrgebiet und in Berlin sowie durch Erzählungen hervorgetan. Sein neuester Erzählband, „Hotel der Schlaflosen“, versammelt elf Erzählungen von unterschiedlicher Länge, die an den verschiedensten Orten und zu verschiedenen Zeiten spielen.
„Fear is a man’s best friend“ lautet das Motto des Bands, ein Zitat von John Cale. Und tatsächlich ist es oft, aber nicht immer in dieser Sammlung von Texten die Angst, eine grundlegende Emotion und menschliche Erfahrung, die die Protagonisten antreibt, motiviert oder einschränkt.
Da wäre zum Beispiel in der ersten Erzählung „Wir im Schilf“ die Musikerin Emilia, die eine alles verändernde Diagnose erhält, kurz bevor sie mit ihrem Bruder David am selben Abend ein Konzert in einer Kirche in Berlin spielen soll. Diesem erzählt sie aus Angst, er könnte damit nicht umgehen, nichts davon. Stattdessen tut sie etwas, was sie noch nie getan hat. Sie verlässt den Ort des Konzertes vor dessen Beginn, während sich das Publikum bereits einfindet, und fährt stattdessen mit einem Taxi durch die Straßen Berlins, wobei ihr Kindheits- und Jugenderinnerungen wieder einfallen, als Berlin noch wild war. Dieser erste Text ist ein feinsinniger Text über den Umgang mit einer schweren Krankheit und zugleich eine Hommage an das verlorengegangene alte Berlin.
Der zweite Text namens „Hotel der Schlaflosen“, welcher dem Erzählband seinen Namen gibt, ist die beste und eindringlichste unter den elf so unterschiedlichen Erzählungen. In einem ehemaligen, zum Oppositionellen-Gefängnis umfunktionierten Hotel werden russische Oppositionelle, die auf einer Todesliste Stalins stehen, im Keller nach und nach gnadenlos umgebracht. Das Gebäude heißt Hotel der Schlaflosen, da die Insassen nachts nicht zur Ruhe finden, aus Angst, der Aufzug könnte als nächstes in ihrem Stockwerk halten und sie würden abgeholt.
Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des Aufsehers, Vollstreckers und sowjetischen NKWD-Offiziers Wassili Michailowitsch Blochin, der einen zynischen und kühlen Blick auf die Vorgänge in dem Hoteltrakt einnimmt. Blochin gab es tatsächlich, er gilt als einer der grausamsten Akteure der stalinistischen Säuberungen und hat Tausende von Menschen auf dem Gewissen. Als Blochins ehemalige Kollegen auf die Todeslisten gerieten, exekutierte er auch diese, wenn auch widerwillig, da sie zuvor alles miteinander geteilt hatten.
Besonders im Gedächtnis von dieser Geschichte, die eine kleine Geschichtslektion darstellt, bleibt die wohl nicht ganz historisch korrekte Unterredung zwischen dem NKWD-Offizier Blochin und dem Schriftsteller und Journalisten Isaak Babel (1894-1940). Denn eigentlich wurde Babel in dem Gefängnis Butyrka in Moskau erschossen. Wenn man nun einmal in der Fiktion bleibt, bietet Blochin, ein Pferdenarr, dem Schriftsteller, den er offenkundig wegen seines berühmten Werks „Die Reiterarmee“ schätzt, vor der Exekutierung Essen und Trinken an – eine Behandlung, die nicht jeder Häftling erhält. In den 1950er Jahren wurde Isaak Babel im Übrigen rehabilitiert, worüber sich Blochin, sein Mörder, laut der Erzählung freute.
Einige Erzählungen spielen in der Nachkriegszeit: „Geronimo“ ist eine Vater-Sohn-Geschichte im Jahr 1960, bei der die sehr männliche Vorliebe zu Cowboys oder Indianern und eine seltsame Begegnung mit einem Mann, der Vater und Sohn mit einer Waffe bedroht, eine Rolle spielt. „Auch das geht vorbei“ handelt von einem von ihrer Mutter geschlagenen, ja mit Gewalt misshandelten Mädchen im Nachkriegsdeutschland, die ihr Leben lang unter dieser Gewalterfahrung leidet und fortan eine gleichgültige Haltung zum Leben einnimmt.
Manche Erzählungen erwähnen explizit die Trennung von Ost- und Westdeutschland: In „Der Dicke Schmitt“ geht es um einen Arbeiter, der seine Stelle auf einer Baustelle verlassen möchte, nachdem er das Abitur gemacht hat, um zum Studieren nach Westberlin zu gehen. Der Chef auf der Baustelle, der ihn und die anderen Arbeiter zuvor schikaniert hat, kommt an seinem letzten Tag zu ihm nach Hause und macht ihm ein Geständnis. „Das Sternbild der Idioten“ erzählt von einem Filmdreh im Westberlin des Jahres 1981, bei welchem einige Komparsen in ihrer Verkleidung als Soldaten der DDR-Volksfront einen kleinen Grenzkonflikt auslösen, der sich allerdings lösen lässt.
Es fällt auf, dass viele Erzählungen in Rothmanns Sammlung von außergewöhnlichen Begegnungen berichten, die zu einem Überraschungseffekt führen. Meist ist es eine überraschende Begegnung oder Nicht-Begegnung, die die Pointe der Erzählungen Ralf Rothmanns ausmacht.
So auch in „Alle Julias!“, wo eine alte Freundin namens Juliane aus Freiburg bei der Hauptfigur Julia in Berlin anruft, um ihr enthusiastisch von ihrem neuen Berufsangebot in Berlin zu berichten. Doch der Zufall will es, dass dieses Jobangebot auch ihre Freundin Julia betrifft. Das bleibt jedoch unerwähnt und man erfährt es nur zwischen den Zeilen.
Eine weitere Zufallsbekanntschaft kommt in „Die Nacht in der Wüste“ vor, die meiner Meinung nach zweitbeste Erzählung des Bandes nach „Hotel der Schlaflosen“. In diesem Text nimmt Gregor, ein Hochschulprofessor für Biochemie, der aus den USA nach Mexiko fährt, die 22-jährige junge Frau Sophia nach La Paz mit, die durch das Land trampen möchte. Es gibt allerdings immer wieder Probleme mit dem Wagen, und während eines Zwischenstopps an einer Tankstelle für eine Reparatur lassen sie außerdem zwei indigene Mexikaner bei sich einsteigen, die illegal in den USA gearbeitet haben und mit nach La Paz fahren möchten, um ihren Familien das auf Plantagen und Baustellen verdiente Geld zu überbringen.
Die Geschichte spricht Probleme wie die Unsicherheit und den Machismus in Mexiko an, da sich Gregor Sorgen um die Unversehrtheit Sophias macht, wenn diese allein reisen wird. Er fühlt sich an seine eigene Tochter erinnert, der ebenfalls ihre Freiheit wichtiger als alles andere war und die sich durch eine erstaunliche Unbekümmertheit auszeichnete. Früher schlug sich seine Tochter Carolin als Zeichnerin in Mexiko durch, mittlerweile arbeitet sie als Bibliothekarin in Deutschland.
Aber auch die Suche nach dem Glück der Einwohnerinnen und Einwohner in den benachbarten USA kommt zur Sprache – und die Gefahren, die damit einhergehen. Die beiden Mexikaner Daniel und Mateo sind bei ihrer Rückkehr auf der Hut vor der örtlichen Polizei, da diese „Netzfischen“ betreibt, das heißt den Rückreisenden, die illegal in den USA arbeiteten, das Geld abnimmt. Bei einer Autopanne in der Wüste kontrolliert ein Offizier im Militärfahrzeug die vier Personen und nimmt die beiden Mexikaner mit. Schließlich gelangen Gregor und Sophia nach La Paz.
Zwischen den Zufallsbekanntschaften Gregor und Sophia ist auf der kurzen, aber verbindenden Reise so etwas wie eine leichte Zuneigung erwacht, vor allem von Gregors Seite.
„Und du willst“, fragte er und räusperte sich, „Sie wollen wirklich allein weiterreisen?“ (…)
Unter ihnen glitten ihre Schatten über das Wasser, und sie sagte leise: „Ja.“
Auch die vorletzte Geschichte handelt von einer schicksalhaften, aber etwas unwahrscheinlichen Begebenheit. Wie in einigen anderen Geschichten wird ausführlich die soziale Klasse thematisiert, aus der der Protagonist stammt. Rothmanns Erzählungen sind damit auch Milieustudien. Der Protagonist Reinhold, dessen Frau ihn für seinen Bruder in Stockholm verlassen hat, ist zurück zu seiner Mutter und deren Ehemann Egon im Ruhrgebiet gezogen. Egon arbeitet als Bestatter, obwohl er schon recht alt ist und an Alkoholismus leidet. Reinhold verdient sein Geld eigentlich auf der Baustelle, doch er geht seinem alkoholkranken Schwiegervater regelmäßig bei Überführungen zur Hand.
Eines Tages werden Egon und Reinhold zu einem Einsatz in der Zeche gerufen, wo zwölf Leichen von den verschiedenen Bestattern aus der Region abgeholt werden sollen. Die Leichen stammen von vor einigen Jahrzehnten, als ein Bergunglück zu ihrem Tod führte, und wurden durch das Vitriol in der Zeche konserviert. Nachdem die Polizei die Leichen inspiziert hat, gibt sie diese zum Abtransport durch die Bestattungsinstitute frei. Der über 70-jährige Egon erkennt unter den Leichen seinen eigenen Vater, der im Alter von 23 Jahren bei der Bergarbeit verunglückt ist, und fährt diesen in seinem Leichenwagen nach Hause.
Es gibt in der Sammlung „Hotel der Schlaflosen“ auch schwächere Geschichten wie die kurze Erzählung „Ein leises Ziehen in der Herzgegend“, in der nicht mehr als eine simple Anekdote erzählt wird, oder die Pferdegeschichte „Admiral Frost“, bei der es um die Angst vor einem unkontrollierten Hengst geht. Dabei wird allerdings das Milieu der Reiter auf eine sehr unterhaltsame Weise en passant seziert.
Insgesamt führt uns der Erzählband „Hotel der Schlaflosen“ durch eine ganze Reihe verschiedener Orte – Berlin, das Ruhrgebiet, Mexiko -, die zu unterschiedlichen Zeiten nach dem Zweiten Weltkrieg beleuchtet werden – Momentaufnahmen einer Welt, die von schicksalhaften Begebenheiten, Zufällen und einem Schuss Angst geprägt ist. Der Erzählband versammelt anspruchsvolle Texte, die alle auf ihre eigene Art überzeugen. Realistisch, mitreißend, empfehlenswert.
Bewertung: 4/5
Bibliographische Angaben:
Autor: Ralf Rothmann
Titel: Hotel der Schlaflosen
Verlag: Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum: 12.10.2020
Seitenzahl: 200 Seiten
ISBN: 9783518429600
Kaufpreise: 20 €
Weitere Rezensionen:
Bücherkaffee – Schreiblust Leselust – Literaturkritik.de – ZEIT – SWR