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„Ausnahmezustand“ von James Sturm

James Sturm, 1965 in New York geboren, hat mit „Ausnahmezustand“ (im Original: „Off Season“) eine Graphic Novel über die persönliche Seite des Wahljahres 2016 in den USA vorgelegt. Der Comic folgt dem Schicksal des Protagonisten Mark, der gerade eine heftige private Krise durchlebt – analog zu der Krise des Landes, welches dabei ist, Donald Trump zu seinem Präsidenten zu machen.

Noch vor drei Monaten waren Mark und seine Frau Lisa ein Paar und gemeinsam glühende Anhänger des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders. Doch zu Beginn der Geschichte hat sich die Welt für Mark grundlegend verändert: Seine Frau will sich von ihm scheiden lassen und Bernie wurde in dieser Schlammschlacht von Wahlkampf durch Hillary aus dem Rennen geworfen.

Mark ist frustriert darüber, wie das Leben ihm mitspielt, frustriert über sein gescheitertes Privatleben und über die große Politik. Während seine Ex-Frau Lisa in den Sozialen Medien und bei Wahlveranstaltungen für Hillary kämpft, ist Mark nach Bernies Ausstieg die Begeisterung für die Wahl abhanden gekommen. Denn Hillary, das sei dasselbe wie vorher noch einmal. Selbst seine Tochter Suzie fordert ihn bei einer Autofahrt auf, er müsse sich zwischen Trump und Clinton entscheiden.

Trotz seines Frusts macht Mark weiter, arbeitet auf einer Baustelle bei dem Bauunternehmer Mick, auch wenn dieser sich nur mehr oder weniger sporadisch bei ihm blicken lässt und mit den Scheckzahlungen für seine Arbeit im Rückstand ist. Er sucht seine neue Rolle als Vater, der ab und zu allein für die Kinder sorgen muss – das Sorgerecht ist geteilt –, wobei hin und wieder die ein oder andere Sache schief läuft. So eskaliert die Lage zum Beispiel, als der Vater seiner Tochter versprochen hat, Kekse mit ihr zu backen, dies aber kurzfristig verschiebt, weil sie schon genug Zucker gegessen hat. Am Ende schreit sie daraufhin nur noch hilflos nach ihrer Mutter.

Kurzum: Wir erleben die Hochs und Tiefs, die großen und kleinen Dramen eines sich neu sortierenden Familienlebens – von einem spontanen Urlaub Marks und der Kinder am Meer im November, der wegen des schlechten Wetters frühzeitig abgebrochen werden muss, über nächtliche Telefonate mit der Ex-Frau Lisa und Telefonate mit dem ebenfalls geschiedenen Bruder Alan, der nachdrücklich dazu rät, einen Anwalt zu nehmen, statt auf Mediation zu setzen, bis hin zu dem ersten Thanksgiving ohne Lisa seit Jahren.

Als Mark so wütend auf seinen weiterhin keine Schecks zahlenden Chef ist, dass er in einer nächtlichen Aktion zur Baustelle fährt und dort etwas zerstört, verliert er seine Stelle und muss fortan Gelegenheitsjobs annehmen. Die Kinder kommen derweil bei Freunden unter. Es sind auch die prekären Rechte eines einfachen Arbeitnehmers in den USA, die hier zur Darstellung kommen, eines Mannes, der sich nach dem Verlust seiner Arbeitsstelle irgendwie durchschlagen muss, um über die Runden zu kommen.

Im Vordergrund der Geschichte steht die mehrfache private Krise des Protagonisten Mark. Eine Aussage von ihm fasst seine Situation ziemlich gut zusammen:

Ich muss mich zusammenreißen. Gerade jetzt. Alles geht den Bach runter.

Nebenher verhandelt die Graphic Novel die politischen Gräben in den USA in einem polarisierten Land und unter der beginnenden Präsidentschaft von Donald Trump – Gräben, die sich auch durch die Familie ziehen. An Thanksgiving ist Mark froh darüber, dass niemand über Politik oder seine Trennung gesprochen hat. An Weihnachten schenkt der selbst nicht anwesende Bruder Alan seinem Vater eine Trump-Käppi mit der Aufschrift „Make America great again“. Während Hillary-Anhängerin Lisa darüber bestürzt ist und der Vater von dem politischen Hintergrund gar nichts merkt, beeilt sich Mark, die Wogen zu glätten, indem er die Baseball-Kappe versteckt.

Lisa und Mark sind sich trotz der Scheidung nicht völlig fremd geworden. Zu eng waren ihre Bande. Auch das geteilte Sorgerecht für die Kinder hält sie zusammen. Es macht einem beim Lesen das Paar sympathisch, dass sie zunächst versuchen, die Scheidung ohne Anwälte über die Bühne zu bringen. Doch auch wenn Lisa letztlich nach Marks Einbruch in einer Baustelle doch einen Anwalt engagiert, gehen sie gemeinsam zur Psychotherapie und versuchen gegen Ende der Geschichte, auf eine unkonventionelle Art – nämlich mit mikrodosiertem LSD – über die krisenhaften Ereignisse hinwegzukommen.

Die Graphic Novel ist – passend zu der trüben Stimmung – ganz in blau-grauen Tönen gehalten. Auf jeder Doppelseite finden sich vier Comic-Bilder, zwei pro Seite. Die Bilder und der Text stammen von James Sturm. Die Übersetzung aus dem Englischen hat Sven Scheer angefertigt. In „Ausnahmezustand“ sind alle handelnden Figuren als hundeartige Tiere mit menschenähnlichen Zügen dargestellt. Diese Darstellungsweise schafft eine Distanz zum Geschehen, die man mit menschlichen Figuren kaum hätte erzeugen können. Mit seinen tierischen Gestalten stellt sich Sturm in die Tradition der „Peanuts“, welche er als Kind liebte, sowie des Comic-Klassikers „Maus“ von Art Spiegelman, bei dessen wegweisendem Magazin “RAW” er zu Beginn seiner Karriere als Produktionsassistent mitarbeitete.

Die Ereignisse – von der im Hintergrund ablaufenden Präsidentschaftswahl bis zu den privaten Geschehnissen im Leben der Familie – lassen die Leserin und den Leser bei der Lektüre nicht unberührt. Wir erleben dabei das Jahr 2016 im Rückblick aus der Perspektive einer Familie statt aus dem Blickwinkel der Medien. Gleichzeitig zeigt uns „Ausnahmezustand“, dass der Alltag der normalen Leute auch unter Trump weiter ging, ohne dass sich für den Einzelnen viel veränderte. Vielleicht ist auch das eine Erklärung dafür, warum Trump trotz all seiner bewiesenen Makel auch 2020 erneut so viel Zustimmung fand.

Bibliographische Angaben:
Autor: James Sturm
Zeichner/Autor: James Sturm; Lettering: Alexandra Rügler; Font: James Sturm
Titel: Ausnahmezustand
Übersetzung aus dem Englischen: Sven Scheer
Verlag: Reprodukt
Erscheinungsdatum: 03.09.2020
Seitenzahl: 216
ISBN: 9783956402319
Kaufpreis: 24 €

Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar, welches ich im Rahmen meiner Tätigkeit für TITEL Kulturmagazin erhielt. Die Tatsache, dass es sich um ein Leseexemplar vom Verlag handelte, beeinflusst meine Meinung nicht.

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