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„Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara

Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben. Hanser Berlin.

Ein Buch, das ich vor zwei Jahren gekauft habe und mir in der Zeit der Quarantäne vorgenommen habe, ist „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara. Mit seinen stolzen 960 Seiten ist es nicht gerade eine kurze Lektüre. Wenn man sich aber auf die Leseerfahrung einlässt, wird man reichlich entlohnt. Kein Buch konnte mich im letzten Jahr so mitreißen, keines war entfaltete eine so überwältigende Kraft wie dieses.

Dabei handelt das Buch eigentlich nur von der Freundschaft zwischen vier Freunden, die sich auf dem College kennenlernen: JB, Malcolm, Willem und Jude. Soweit unterscheidet es sich noch nicht weiter von anderen Freundschaftsromanen. Auf den ersten hundert Seiten lernen wir die Freunde und ihre Beziehung zueinander kennen, wir bekommen einige Collegeerfahrungen mitgeteilt, Familiengeschichten, Hintergrundgeschichten, die die einzelnen unter den vier Freunden geprägt haben.

Recht bald kristallisiert sich heraus, dass der erfolgreiche und sympathische Jude ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken wird. Er macht als Anwalt in einer angesehenen Kanzlei Karriere. Dabei trägt Jude allerdings steht seine Vergangenheit, die Trauma seiner Kindheit und Jugend, mit sich herum, mit denen er zurechtkommen muss. Lange Zeit berichtet er nicht einmal seinen engsten Vertrauten von den Narben, die seine stetigen Begleiter sind.

Im Laufe des Buches entwickelt sich eine enge Freundschaft und Beziehung zwischen Willem und Jude, die wegen Judes Abneigung gegen fast jede Art von Körperlichkeit bald rein platonischer Natur bleibt. Diese Abneigung stammt von seinen Vergewaltigungserfahrungen, von denen er mehrere erleben musste, wie man als Leserin und Leser, gestreckt über den ganzen Verlauf des Buches mit Pausen von mehreren hundert Seiten, aus dem Text erfährt. Willem versucht, Jude aus dem Klammergriff seiner Vergangenheit zu befreien, indem er ihm zum Reden bewegt, wenigstens mit einem Psychotherapeuten…

Der weitere Verlauf des Werks bietet noch einige Höhen und Tiefen, auch weitere Freundschaften, von denen ich noch nichts berichtet habe, zum Beispiel die zu einem Hochschulprofessor und seiner Frau. Fast wirde es gegen Ende etwas zu ereignisreich, als dass man es noch glauben möchte. Ich habe mich manchmal erwischt, wie ich mich gefraft habe: „Können diese vier Freunde das tatsächlich alles erleben oder ist diese Masse an Erlebnissen nicht zu viel für einen Text?“ Doch diese spannungsreiche Erzählform, die fesselt, die packt und die der Autorin häufig in Buchkritiken auch als manipulativ ausgelegt wurde, macht das Werk „Ein wenig Leben“ aus.

Was mir an „Ein wenig Leben“ gefallen hat, war nicht nur der Inhalt – die lebenslange Freundschaft von vier einander eng verbundenen, vertrauen Personen, die man im echten Leben kaum je so finden wird, sondern vor allem auch die raffinierte, ja manipulative Erzählweise mit Rückblenden in die Vergangenheit Judes und teilweise auch der anderen Protagonisten, die es verstand, die Leserinnen und Leser über 960 Seiten im Bann zu halten und einen gelungenen Spannungsbogen aufzubauen. Manchmal musste ich das Buch zur Seite legen, weil mir die Schilderungen von Judes Erlebnissen etwas nahe gingen, doch im Großen und Ganzen hat mir die Lektüre den Atem geraubt.

Ich kann die Letüre jedem uneingeschränkt empfehlen. „Ein wenig Leben“ ist ein wahres Lese-Erlebnis, das man sich nicht entgehen lassen sollte. Ausgenommen davon sind einzig Personen, für die Gewalterfahrungen und Vergewaltigungsberichte Triggerwirkung haben. Denn die nehmen einen deutlichen Teil des Buches ein.

Dennoch handelt es sich nicht um ein Buch über Vergewaltigung, sondern einen Roman über Freundschaft, über Intimität und Zusammenhalt, das schwierige Gegenstände, die auch zum menschlichen Zusammenleben gehören, wie etwa Traumata, Gewalt, Vergewaltigung und Tod behandelt. Interessant für mich war auch der Einblick in die Film- und Kulturszene in New York, die vorkommt, da der Protagonist Willem als Schauspieler arbeitet. Zudem spielt das Thema Homosexualität ab einem bestimmten Punkt im Buch eine gewisse Rolle, was ich persönlich, ausgehend vom Klappentext, überhaupt nicht erwartet hatte, sodass es mich eher positiv überraschte. Am Ende erhält man bei „Ein wenig Leben“ nicht nur ein wenig Leben, sondern sehr viel Leben – der Titel stellt sich als deutliche Untertreibung heraus.

Bewertung: 5/5

Bibliographische Angaben:
Autorin: Hanya Yanagihara
Titel: Ein wenig Leben
Übersetzung aus dem Englischen: Stephan Kleiner
Verlag: Hanser Berlin
Erscheinungsdatum: 30.01.2017
Seiten: 960
ISBN: 9783446254718
Kaufpreis: Hardcover 28 € (Piper-Tasachenbuch 16 €)

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