Im Sommer 2021 verkündete die französische Presse nicht weniger als eine literarische Sensation: Es waren 6000 Seiten bislang unveröffentlichte Manuskripte des als Antisemit geltenden Schriftstellers Céline aufgetaucht. Teil jenes Fundes war das Werk „Krieg“ („Guerre“) (und die Fortsetzung „Londres“) über einen Protagonisten, der im Ersten Weltkrieg verletzt wird und in ein belgisches Lazarett kommt, wo er zwischen Blut, Sexualität, Siechtum und unübersichtlichen Wirren den Krieg durchlebt. Wir haben einen Blick in dieses neu entdeckte Werk des Autors von „Reise ans Ende der Nacht“ geworfen.
Louis-Ferdinand Céline, dessen bürgerlicher Name Destouches lautet, befand sich im Juni 1944 nach Landung der Alliierten auf der Flucht, gemeinsam mit seiner Frau Lucie („Lucette“). Da er während der Zeit der Kollaboration antisemitische Hetzschriften und Pamphlete veröffentlicht hatte, flohen die beiden nach der Landung der Alliierten über Deutschland nach Dänemark, wo Céline 1945 nach einigen Schwierigkeiten ankam. Nach Célines Flucht brachen im Spätherbst 1944 Résistance-Kämpfer in dessen Pariser Wohnung ein und stahlen, wie der Schriftsteller nach Kriegsende nicht müde wurde zu betonen, Manuskripte, die danach als verschollen galten.
Angeblich war es ein gewisser Yvon Morandat (1913-1973), ein Résistance-Kämpfer, der die Manuskripte in den Müll geworfen hat, zumindest sah das Célineso. Derselbe Morandat wurde später Staatsekretär. Jahrzehntelang waren die gestohlenen Manuskripte verschwunden. Bis am 6. August 2021 Le Monde berichtete, dass der Journalist und ehemalige Theaterkritiker Jean-Pierre Thibaudat seit gut fünfzehn Jahren im Besitz einer Kiste voller Céline-Handschriften sei, die er transkribiert habe.
Die Pariser Nationalbibliothek bestätigte die Echtheit der gut 6000 Seiten. Doch weshalb war Thibaudat erst jetzt an die Öffentlichkeit getreten? Die Witwe Célines war erst 2019 im Alter von 107 Jahren verstorben, und es war für Thibaudat eine Bedingung gewesen, dass die Manuskripte erst nach dem Tod der Witwe der Allgemeinheit übergeben werden sollten, damit es nicht zu möglichen Veränderungen oder „Bereinigungen“ der Dokumente komme. Enthalten waren nämlich auch Fotos, Briefe und Scheidungsdokumente aus Célines erster Ehe sowie ein antisemitisches Dossier.
Wie sind „Krieg“ und „London“, die beiden nun veröffentlichten neuen Werke, einzuordnen? Beide muss man im Kontext von Célines antisemitischen Äußerungen lesen, wobei weder „Krieg“ noch „London“ antisemitische Stereotype enthalten. Célines Vater war Antisemit, seinem Sohn gab er judenfeindliche Zeitschriften zu lesen, und Céline selbst äußerte in den 1930er Jahren deutlichen Antisemitismus. Ich selbst distanziere mich hiermit deutlich von den antisemitischen Standpunkten Célines und möchte ihn in dieser Rezension, wenn auch nicht völlig losgelöst von dieser sehr problematischen Haltung, doch vor allem als Autor des nun wieder aufgetauchten „Guerre“ betrachten, der er war. Da Antisemitismus nicht erst seit Kurzem wieder virulent ist, habe ich der eigentlichen Rezension eine Einordnung und Einführung vorangestellt.
Man muss Céline also mit Vorsicht genießen, was in Deutschland nicht immer getan wurde, da er vor allem als Kriegsschriftsteller und Autor von „Reise ans Ende der Nacht“ galt, seinem bekanntesten Werk, das auch für seinen schriftstellerischen Rang verantwortlich ist. „Krieg“ erzählt ebenfalls die Ereignisse im Ersten Weltkrieg, aufbauend auf den Erlebnissen des Autors. Ein französischer Soldat namens Ferdinand (wie der Autor) wird in Ypern (Belgien) verwundet und kommt aufgrund seiner Verletzung in ein Lazarett in Peurdu-sur-la-Lys.
Der Ortsname ist ein sprechender Name, der für die Verlorenheit des Ortes spricht, in dem der Soldat fortan von der sadistisch veranlagten Krankenschwester L’Espinasse gepflegt wird. Diese schreckt nicht davor zurück, die ihr anvertrauten Kranken anzufassen. Derb geht es bei Céline zu, was ein wenig an literarische Vorgänger wie Rabelais oder einen gestandenen Autor wie Grimmelshausen denken lässt, die mit für die damalige Zeit unverblümter Sprache und deutlichen Worten Körpervorgänge, Kriegserlebnisse und Lustbarkeiten beschrieben, ohne sich um den Anstand zu sorgen.
Auch Céline erzählt mit verblüffender Direktheit, wobei dies manchmal auch dazu führt, dass man von der unverstellten Art des Berichts nicht schockiert, aber doch ein wenig erschrocken ist, wenn die Erzählung gerade wieder zwischen Krieg, Krankheit, Sexualität und Sadismus hin und her schwankt. Diese Kombination kann auf Dauer ermüdend wirken, ein Zuviel an Sensationen, vor allem für die heutigen Leserinnen und Leser, die angesichts von Sensitivity Reading den Schock, das Derbe und den Exzess nicht mehr gewohnt sind.
Ferdinand lernt im Lazarett den ebenfalls verwundeten Freund Cascade (wobei der Name im Laufe der Erzählung zwischen Bébert und Cascade und Julien wechselt) kennen, der ihn mit der Prostituierten Angèle bekanntmacht, die eigentlich mit Cascade verheiratet ist. Nachdem sie Cascade bei den Behörden angeschwärzt hat, macht sie mit Ferdinand gemeinsame Sache und möchte mit ihm ihre englischen Freier betrügen. Einer der so geprellten Freier findet Gefallen an dem ungleichen Gaunerpärchen Ferdinand und Angèle, das sein gemeinsames Glück versucht, und nimmt die beiden mit nach London, wo der Roman „Londres“ einsetzt.
Es ist eine teils wirre, teils repetitive und immer unkonventionelle Art des Erzählens, die Céline in „Guerre“ einsetzt, um das Chaos des Ersten Weltkrieges auch erzählerisch widerzuspiegeln. Wir geraten zwar nie an die Fronten, wo sich die Soldaten in einem Stellungskrieg beschießen, doch in dem Ort unweit der Kampfeszone gibt es alles, was zu einem Krieg dazugehört: finanzielle und materielle Not, Verletzungen und Verwundungen, Prostitution, Kriminalität, Unehrlichkeit, den Versuch, die Situation der anderen auszunutzen und viel Gaunerei…
So vergeht die Zeit im Örtchen Peurdu-sur-la-Lys, und wir als Leser folgen dabei den kleineren und größeren Abenteuern des Protagonisten Ferdinand, seines Freundes Cascade und der Prostituierten Angèle, die eine interessante und höchst unterhaltsame Bande formen. Im Grunde ist der Roman von Céline ein Gauner- und Abenteuerroman, ein Schelmenroman mit vielen Unwägbarkeiten, wo um jede Ecke die nächste Überraschung lauert und man abends zurück im Lazarett sein muss, damit die Vorschrift nicht gestört wird. Zwischen Chaotentum und militärischen Vorschriften oszilliert das Schreiben und Denken Célines, immer auf der Suche nach dem nächsten großen Coup.
Bewertung: 3,5/5
Louis-Ferdinand Céline: Krieg. Aus dem Französischen von Hinrich-Schmidt Henkel. Hrsg. von Pascal Fouché u. mit Vorwort von Niklas Bender. Rowohlt Verlag. 24 €.