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„Lieblingstochter“ von Sarah Jollien-Fardel

Sarah Jollien-Fardel verfasste mit „Lieblingstochter“ ein radikal ehrliches, fiktionales Buch über eine Geschichte mit einem wahren, autobiographischen Kern. Sie schreibt darin über einen cholerischen Vater, der die Familie – bestehend aus Mutter und Töchtern – mit Zorn und Gewalt terrorisierte, drangsalierte, schikanierte. Es ist eine Geschichte über traumatische Verletzungen, die bis in die Gegenwart reichen – und die das Leben der Ich-Erzählerin Jeanne auch im Erwachsenenalter nachhaltig prägen.

Der Roman spielt in der Schweiz, wie sich das für eine Journalistin und Autorin, die aus der Schweiz stammt und in Sion im Wallis geboren wurde, gehört. Jollien-Fardel ist selbst im Kanton Wallis aufgewachsen, einer alpinen Region, die zur Hälfte der frankophonen und zur anderen Hälfte der deutschsprachigen Schweiz angehört. Als Jugendliche möchte sie der bergigen Einsamkeit entkommen und zieht nach Lausanne, bevor sie zu ihrer Familie ins Wallis zurückkehrt.

Jollien-Fardel arbeitet in der Schweiz als Journalistin für Mode und Literatur und lebt heute mit ihrer Familie in Bramois, einer Gemeinde in der Nähe ihres Geburtsortes Sion (Wallis). „Lieblingstochter“ (frz. „Sa préférée“) ist ihr literarisches Debüt, jedoch ein sehr gelungener Erstling, der vor Leben, Lebenserfahrung und Wahrhaftigkeit strotzt. Nicht umsonst erhielt die Schriftstellerin dafür 2022 (Jahr des Erscheinens in Frankreich) den „Prix du roman Fnac“ und den „Prix Goncourt des détenus“, also den Goncourt-Preis, der von den Gefängnisinsassen verliehen wird.

Wer kann es den Gefangenen verübelen, dass sie ausgerechnet einen Roman goutieren, in dem es um rohe Gewalt, rohe Sprache und puren Zorn geht – also Dinge, die sie wahrscheinlich (leider) aus ihrer unmittelbaren Erfahrung kennen? Denn genau davon handelt das Werk von Sarah Jollien-Fardel. Die Ich-Erzählerin Jeanne berichtet aus ihrer Vergangenheit, die nicht gerade rosig war. Es geht um einen Vater, der cholerisch und sadistisch über seine Familie herrschte, der sie tyrannisierte, dominierte und schikanierte, der Dinge zerstörte, Gewalt ausübte, mit Gewalt über die Familienmitglieder verfügte, wenn sich ihm ein Anlass bot.

Und Anlässe gab es viele: Wenn die Mutter oder die Töchter etwas taten, was ihm nicht gefiel, was zu schöngeistig war oder nicht nützlich, wenn sie Geld vergeudeten oder Zeit vertrödelten, wenn sie einen Fehler machten oder nicht den Regeln folgten, die selbstverständlich der Hausherr vorgab, war ein Wutausbruch die Folge. Für die Erzählerin und ihre Verwandten ist es ein Tanz auf dem Vulkan, ein Drahtseilakt, dieses Leben mit einem Choleriker und Gewalttäter, immer begleitet von der Angst, wieder mit Zorn, Wut und Gewalt konfrontiert zu werden.

Emma, die Schwester der Erzählerin, nennt er seine „Lieblingstochter“. Sie ist besonders hübsch und, wie sich später herausstellt, wurde sie von ihm vergewaltigt. Jeanne, die sich schon als Jugendliche in die Welt der Bücher flüchtete, flieht zum Studium in die nächstgrößere Stadt, wo sie weit weg von der Familie ist. Doch die Erfahrungen aus der eigenen Vergangenheit und die damit verbundene Scham bleiben. Dieser Vater in diesem Buch erscheint als ein Scheusal durch und durch, man möchte ihm als Leser oder Leserin an die Gurgel gehen, möchte sich auf die Seite der Frauen schlagen und möchte schreien: Warum schreitet hier niemand der Umstehenden ein? Warum bereitet diesem inhumanen Treiben keiner ein Ende?

Denn die Umgebung der Familie in dem beschaulichen Bergdorf schaut zu, wartet ab, schreitet aber nicht ein. Da wäre zum Beispiel der Dorfdoktor Fauchère, der miterlebt, welche ernsthaften Blessuren der Vater seinen Familienmitgliedern zufügt, der aber nicht handelnd eingreift. Jahre später wird er bereuen, dass er damals nichts getan hat. Die Handlungen des Vaters wirken sich auch Jahrzehnte später noch aus.

Der Ich-Erzählerin Jeanne fällt es schwer, dauerhafte Beziehungen einzugehen. Einmal sagt sie, es sei schwer, auf ihren Boden etwas zu bauen. Sie sucht zunächst die Nähe von anderen Frauen und geht eine Beziehung mit einer Frau ein, doch dann lernt sie Paul kennen und stellt ihre bisherige Beziehung wieder infrage. Immer wieder wird die Familie – der Vater selbst vielleicht ausgenommen – von der Vergangenheit eingeholt, was bis zum frühzeitigen Tod von Emma führt. Auch die Mutter stirbt früh, jedenfalls vor dem Vater, der Emma und die Mutter überlebt. Die Erzählerin hat am Ende keinerlei Mitgefühl für den kranken Vater, denn sie sieht in ihm nur den Täter, anders als ihre damalige Partnerin, die ihn auch als Menschen sieht.

Der Roman stellt auch die Frage, in welchem Maße man Menschen, die andere grundlos quälen, plagen, terrorisieren, noch akzeptieren kann. Ist der Vater nach wie vor Vater, obwohl er Mutter und Töchter mit Wut und Gewalt überzogen hat? Ist es zu kurz gegriffen, ihn nur als Täter zu sehen? Oder hindern die Verletzungen Emma womöglich daran, diese Sichtweise einzunehmen, da sie ihn nicht anders als das Monster, das er war, betrachten und empfinden kann?

Der Roman erinnert in seiner Thematik auch an Annie Ernaux‘ Romane, wo ebenfalls die Frage von gesellschaftlich bedingter Scham (la honte) und deren Folgen eine Rolle spielt. In dem Buch „Die Scham“ von Ernaux geht es darum, dass der Vater Ernaux‘ die Mutter fast umgebracht hätte und was dieses Wissen, verbunden mit der gesellschaftlich niedrigen Position der Familie, mit der Erzählerin gemacht hat. Die Analyse der Scham, die einen nie ganz loslässt und eine gesellschaftliche Form der Herabsetzung ist, macht Ernaux‘ Roman zu einer wertvollen Ergänzung zu „Lieblingstochter“, wo es vor allem um die emotional-psychologische Seite des Zorns, der Gewalt und der Wutausbrüche geht – um Traumata und Verletzungen, die langsam, aber nie ganz heilen.

„Lieblingstochter“ spricht zahlreiche wichtige Themen an, in einer ansprechenden Sprache und einem lebhaften, gut lesbaren Stil, der darauf hoffen lässt, dass es in Zukunft noch mehr gesellschaftlich relevante Werke der Autorin und Journalistin Sarah Jollien-Fardel geben wird. Die Übersetzung von Theresa Benkert ist gelungen und trifft den richtigen Ton, allerdings sollte man den Roman auf jeden Fall meiden, wenn man ein Problem mit Themen wie häuslicher Gewalt, Missbrauch, Tod oder Suizid hat.

Für alle anderen eine Leseempfehlung, auch wenn man angesichts der Rohheit und Radikalität des Inhalts ab und zu innehalten muss, um das Gelesene zu verdauen.

Bewertung: ⭐⭐⭐⭐ 4/5

Sarah Jollien-Fardel: Lieblingstochter. Aus dem Französischen von Theresa Benkert. Aufbau Verlag. 24 €.

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