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„Doppelleben“ von Alain Claude Sulzer

Der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer schreibt in „Doppelleben“ über ein berühmtes Brüderpaar der französischen Literaturgeschichte, die Brüder Goncourt (frz. frères Goncourt), die nach dem Tod ihrer Eltern durch äußerst enge Familienbande verbunden wurden und nicht nur gemeinsam an Romanen wie „Germinie Lacerteux“ arbeiteten, sondern auch in einem gemeinsamen Haus lebten und einen Alltag sowie ihr bis heute berühmtes Tagebuch teilten, in welchem sie Klatsch ebenso wie Literarisches festhielten.

Zugleich widmet sich der Roman der Geschichte einer Person aus einfachen Verhältnissen, die sich anders als die durch ihre zahlreichen Journale und Romane bekannten Brüder Goncourt nicht unbedingt als Romanstoff anbietet. Diese Person ist Rose, die Haushälterin der Goncourts, die zuverlässig all ihren Pflichten nachgeht, aber nicht kochen kann und zudem noch unglücklich verliebt ist. Ihre Liebe versteckt sie vor ihren Vorgesetzten und der Welt, eine Liebe, die ihr nicht guttut und von der sie doch nie loskommt.

Der Reiz von Alain Claude Sulzers Roman liegt in diesem zweifachen Tableau, das zwischen Szenen zum Privat-, Gesellschafts- und literarischen Leben der Brüder Goncourt sowie Szenen zur Haushälterin Rose sowie deren Liebes-, Privat- und Familienleben hin- und her wechselt. Denn Rose liebt nicht nur unglücklich einen Mann namens Alexandre, der sie schamlos ausnutzt und von ihr sogar sein Geschäft finanziert bekommt, wofür diese noch Schulden bei verschiedenen Bekannten und Freunden auf sich nimmt. Nein, sie hat auch noch ein Kind mit diesem Mann, das er nicht annimmt, sodass sie es weggeben muss, damit sie weiterhin ihrer Arbeit nachgehen kann.

Man mag fast in einem Anflug von Verzweiflung über dieses bedauernswerte Frauenschicksal sagen: Kein Wunder, dass die Betroffene resigniert und schließlich dem Alkohol verfällt, genauer dem Likör und Absinth, von dem sie gern etwas zu viel trinkt, was irgendwann auch den scheinbar unaufmerksamen und fast blinden Brüdern Goncourt auffällt. Unaufmerksam und fast blind deshalb, weil sie von all dem Liebes- und Familiendrama um ihre Haushälterin überhaupt nicht die geringste Ahnung haben, auch als letztere ihrem geliebten Alexandre durch Paris hinterherspioniert, um, angestachelt von Eifersucht, seine Affären herauszufinden und unschädlich zu machen.

Ein wenig erinnert Rose’ Geschichte an die Dienerin und Haushälterin Félicité in Flauberts Novelle „Un cœur simple“ (1877, in „Trois Contes“) oder die Haushälterin Rosalie in Maupassants Roman „Une vie“ (1883). Haushälterinnen und Diener sind in der Fiktion untergeben, treu, zuerlässig, aber manchmal auch lebensklug, erfahren und gute Ratgeber und Begleiter für ihre Vorgesetzten. Das besonders Tragische an Rose’ Schicksal ist am Ende, dass sie an einer Liebe scheitert und verzweifelt, die nicht erwidert wird – ein Schicksal, das man hätte verhindern können, zumal sie immer wieder die gleichen Fehler mit ihrem Geliebten Alexandre macht.

Doch ist die Liebe rational greifbar? Alain Claude Sulzer antwortet am Beispiel des Schicksals von Rose: „Nein.“

Auch Edmond und Jules de Goncourt – die Namensgeber des seit 1903 verliehenen Prix Goncourt – führen ein Doppelleben. Denn neben ihren Romanen, von denen die bekanntesten „Renée Maupin“ (1864 erschienen, ein Roman, der Thomas Mann zu den „Buddenbrooksinspirierte) und „Germinie Lacerteux“ (1865) sind, schreiben sie auch tagtäglich ihre Tagebücher voll, von denen die Öffentlichkeit damals nicht wissen durfte, da sie viel Klatsch und Tratsch enthielten. (Die Tagebücher sind anders als die Romane in einer deutschen Gesamtausgabe 2013 im Haffmanns Verlag erschienen.) Im Roman Sulzers geht es also auch um Geheimnisse im Pariser Literaturbetrieb, wie etwa die Krankheit Jules de Goncourts, der sich 1850 mit Syphilis infiziert hatte, einer Krankheit, die sich irgendwann nicht mehr verstecken ließ und an der er schließlich starb.

Etwas ermüdend zu lesen ist, wie sich Jules körperlich fit hält – Jules und Emond verschwimmen übrigens in der Darstellung ein wenig und sind aufgrund ihrer Nähe bisweilen etwas schwer auseinander zu halten. Statt über Banalitäten zu schreiben, wäre es interessant gewesen, mehr über die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erfahren, in denen die Brüder Goncourt eingebunden waren, zum Beispiel den Salon der Prinzessin Mathilde, der hin und wieder vorkommt, aber letztlich zu wenig Raum einnimmt.

Was auch interessant gewesen wäre, sind die politischen Ansichten der Brüder: Es ist leicht zu eruieren, dass die beiden Goncourts antisemitisch eingestellt waren – sowohl im Umgang mit Freunden als auch in ihren Werken (z. B. in „Manette Salomon“) – und gegen die Französische Revolution wetterten. Sie waren Anhänger des Ancien Régime, d. h. gegen die Republik. Dies spielt bei Alain Claude Sulzer keine Rolle – ein Makel, den man nicht einfach wegwischen kann!

Stattdessen widmet sich Sulzer der Krankheit Jules de Goncourts sowie seinem Krankheitsverlauf. Wir erleben einen langsamen Niedergang, der mitunter schwer aufs Gemüt schlägt, aber auch einen Reiz hat. Während Jules de Goncourt kränker und kränker wird, muss Edmond de Goncourt mit dem zunehmenden Abbau seines Bruders zurechtkommen. Dazu kommen Szenen bei der Prinzessin Mathilde sowie in Paris und auf dem Lande. Und natürlich die überwältigende Entdeckung, dass die Haushälterin Rose jahrelang ein Doppelleben führte. Die damit einhergehende Überraschung mündet in den Roman „Germinie Lacerteux“, in dem es um eben dieses Versteckspiel einer Haushälterin geht.

In gewisser Weise wandert Alain Claude Sulzer mit seinem Roman „Doppelleben“ auf den Spuren der großen französischen Realisten des 19. Jahrhunderts, wenn er einerseits den Literaturbetrieb und seine Protagonisten, andererseits die Geschichte einer einfachen Haushälterin für die heutigen Leser erfahrbar macht. Sein Schreibstil ist lebhaft, plastisch und realistisch, und die gekonnte Federführung gleicht manches Mal den melancholisch-trübsinnigen Ton des Romans aus, der leider ein wenig aufs Gemüt schlägt und dazu führt, dass man ihn wie eine bittere, aber heilende und wirksame Medizin tröpfchenweise konsumiert.

Eine nicht immer leichte, aber bereichernde und lehrreiche Lektüre mit realistischen Anklängen.

Bewertung: ⭐⭐⭐⭐ 3,5/5

Alain Claude Sulzer (2022): Doppelleben. Berlin: Galiani.

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