Die belgische Comiczeichnerin und -autorin Judith Vanistendael legt mit „Penelopes zwei Leben“ eine Graphic Novel über die moderne Odyssee einer Ärztin zwischen dem syrischen Bürgerkrieg und ihrer Heimat Belgien vor. Darin thematisiert werden Fragen wie: Was macht der Krieg mit einem? Woran kann man sich noch festhalten, wenn man mit extremer Gewalt und Grausamkeit konfrontiert wurde? Wie geht das Leben danach weiter? Ist ein normales Familienleben in der Heimat dann noch möglich?
Die Graphic Novel „Penelopes zwei Leben“ beginnt mit einer naheliegenden Reminiszenz an Homers Odyssee. Die Protagonistin sagt über sich:
Mein Name ist Penelope. Ich webe nicht. Ich warte nicht. Ich habe keinen Sohn. Ich habe eine Tochter. In einer Woche wird sie achtzehn. Ich werde nicht da sein an ihrem Geburtstag. Ich habe sie seit vier Jahren nicht gesehen. Diese Geschichte ist für sie.
Darauf folgt ein Zitat des Musenanrufs aus der Odyssee Homers, der als Bitte um Inspiration und Beistand der Musen verstanden werden kann. Die Hauptfigur des Comics, Penelope, wird durch ihren Namen einerseits in die Nähe von Odysseus Frau Penelope gerückt, die zuhause auf die Rückkehr ihres Gatten wartet und sich dabei gegen die drängenden Freier wehren musste, andererseits hat sie, was ihre Tätigkeit anbelangt, einige Ähnlichkeit mit Odysseus selbst, der sich ebenso wie die in Syrien tätige Ärztin im Ausland aufhielt, am Krieg gegen Troja teilnahm und nach dem Trojanischen Krieg durch seine Irrfahrten von der Heimkehr abgehalten wurde.
Doch ist es für die Ärztin im besten Alter wirklich eine Irrfahrt, sich als Medizinerin ohne Grenzen in Aleppo um Verletzte und Schwerverwundete des Krieges zu kümmern oder nicht eher eine Berufung? Und vielleicht auch eine heimliche Flucht vor der fernen Realität im heimischen Belgien, wo eine Familie, Eltern, Geschwister, Ehemann, ein gewöhnlicher Job als Chirurgin im Krankenhaus und die typischen Alltagsangelegenheiten eines mitteleuropäischen Lebens auf Penelope warten, die im Vergleich mit der Kriegswirklichkeit in Syrien ungemein unbedeutsam erscheinen.
Der Comic setzt damit ein, dass die Protagonistin nach einer längeren Zeit in Aleppo nach Hause nach Brüssel fliegt, wo sie in den Familienalltag katapultiert wird. Ihre Tochter nimmt es ihrer Mutter ein bisschen übel, dass sie nicht da war, als sie ihre erste Monatsblutung bekommen hat, sodass sie die Großmutter zurate ziehen musste. Gleichzeitig steht am ersten Tag nach der Ankunft ein überraschendes – und der frisch Angekommenen im Grunde unwillkommenes – Frühstück mit den Verwandten an.
Ihr Mann, ein hilfsbereiter Dichter und Schriftsteller, versucht, sowohl während der Anwesenheit als auch in der Abwesenheit seiner Frau alles richtig zu machen und den Familienalltag zu managen, doch Penelope bemerkt: „Zu Hause sein wird immer schwieriger.“ Denn jedes Mal, wenn sie nach Hause zurückkehrt, egal wie sehr sie sich auch darüber freut, ihren Mann und ihre Tochter zu sehen, brechen alte Konfliktlinien wieder auf: Ihre Mutter fragt sie, ob sie nicht komplett zurückkehren möchte, ihre Schwester wirft ihr mehr oder minder offen die Vernachlässigung der Familie vor.
Dabei geht es Penelope eher andersherum: Für sie wird es immer schwerer, die Schicksale und Wunden, die sie in Syrien Tag für Tag erlebt, nicht nach Hause mitzunehmen. Wo ist überhaupt dieses Zuhause? Irgendwo zwischen Syrien und Brüssel? Es scheint sich etwas in ihrer Wahrnehmung verschoben zu haben, denn bei der neuesten Reise zu ihrer Familie hat sie ein totes Kind in ihrem Gepäck mit nach Europa genommen, dessen Eindruck sie nicht loslässt. Wie ein Geist spukt das rotschwarz gezeichnete Kind durch ihre Gedanken, verfolgt sie im Schlaf, bei der Arbeit und in anderen Situationen.
So werden die Abstände zwischen den Reisen zurück nach Brüssel immer größer. Wer sich für den Syrienkrieg und seine Folgen, aber insbesondere seine konkreten Auswirkungen auf einzelne Menschen interessiert, liegt mit dieser Graphic Novel goldrichtig!
Sie verdeutlicht an einem konkreten Beispiel, was Krieg bedeutet, welche Folgen die Angriffe des Assad-Regimes auf seine eigene Bevölkerung haben und wie nicht nur die Angegriffenen leiden, sondern auch die Menschen von Hilfsorganisationen vor Ort sich aufopfern. Abgerundet wird der Band durch eine Comic-Reportage über die Zustände im Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos aus dem Jahr 2017.
Bewertung: 5/5
Bibliographische Angaben:
Autorin/Illustratorin: Judith Vanistendael
Übersetzung aus dem Niederländischen: Andrea Kluitmann
Verlag: Reprodukt Verlag
Erscheinungsdatum: 04.03.21
Seitenzahl: 176 Seiten
ISBN: 9783956402418
Kaufpreis: 20 €
Weitere Rezensionen:
Comic Kunst – Comic Couch – BR Kultur – Süddeutsche Zeitung – Deutschlandfunk Kultur – SWR – WDR – 3Sat – taz