In „Zeit der Abwesenheit“ begibt sich Philippe Besson in die Zeit des Ersten Weltkriegs aus französischer Sicht. Der junge Protagonist Vincent verliebt sich in den Sohn der Haushälterin, einen Soldaten, der an der Front gegen die Deutschen kämpft. Zugleich trifft Vincent immer wieder den um einiges älteren Marcel, hinter dem sich kein Geringerer als der Schriftsteller Marcel Proust verbirgt. Zwischen Gefühlen, Leidenschaft und Grausamkeit des Krieges entspannt sich ein dramenhaftes Dreiecksverhältnis.
„En l’absence des hommes“ heißt dieses Werk aus dem Jahre 2004 von Philippe Besson, das viele für eines seiner besten halten. Im Englischen wurde daraus „In the Absence of Men“. Der deutsche Titel hingegen ist wenig verheißungsvoll und bleibt abstrakt: „Zeit der Abwesenheit“. Darunter kann man sich vieles vorstellen, denn wer oder was ist bitte schön abwesend? Doch wohl die beiden Männer, auf die sich der junge Ich-Erzähler Vincent einlässt. Vincent selbst ist 16 Jahre alt, geht an ein ausgezeichnetes Pariser Lycée und hat das Leben noch vor sich. Seine Mutter sagt ihm, dass zu Beginn dieses Jahrhunderts geboren zu sein ein Segen für ihn sei. Ein Segen also… bis zu jenem Krieg im Jahr 1914, der alles auf den Kopf stellt.
Dieser junge Mann, dessen Haut zart ist, dessen Augen wunderschön sind, dessen Haare schwarz sind, verliebt sich zur selben Zeit in zwei verschiedene Männer: Einerseits lernt er im Sommer 1914 den dreißig Jahre älteren Marcel Proust kennen, den er aus Ehrerbietung siezt. Mit ihm fällt es schwer, ein gemeinsames Gespräch zu finden, abseits von der Bewunderung für diesen damals bereits berühmten Schriftsteller. Sie verbringen Zeit zusammen, gehen in ein Café, gehen spazieren. Und doch ist die Faszination füreinander so groß, dass sie nicht voneinander loskommen. Dabei wusste Vincent, dem Marcel nur seinen Vornamen nannte, zu Beginn nichts davon, dass es sich um den bekannten Autor handelte.
Andererseits verliebt sich Vincent in den Sohn der Haushälterin, Arthur, der den Krieg für ihn greifbar und erfahrbar macht, da dieser Arthur als Soldat kämpfen muss. Nur während der begrenzten Zeit des Fronturlaubs haben die beiden die Möglichkeit, sich zu sehen, und umso leidenschaftlicher und umso begieriger wird die kurze Liebe der beiden, die im Gegensatz zu der distanzierten Liebe zwischen Vincent und Marcel vor allem aus rein körperlicher Lust und Begehren besteht. Die beiden fallen übereinander her, schreiben sich verliebte Briefe, auch während Arthur an der Front ist, und zelebrieren ihre junge bedingungslose Liebe füreinander.
Sie schwelgen in einem Gefühl auf eine Weise, dass man eifersüchtig wird, wie intensiv und schrankenlos diese jungen, jugendlichen Protagonisten empfinden und in ihre zweisame Gefühlswelt eintauchen. Nur ein weiterer Zaungast, Marcel, ist in dieser Konstellation zugelassen, ohne dass Arthur davon etwas weiß. Er dient als Vaterfigur, Beschützer und Berater des jungen Vincents, dem er sich anvertrauen kann, wenn Arthur abwesend ist. Doch selbst in Arthurs Anwesenheit trifft sich Vincent bisweilen ohne größere Gewissensbisse mit dem Schriftsteller auf einen Tee – es handelt sich um ein klassisches Dreiecksverhältnis, eine ménage à trois, in der jedem seine Rolle zugewiesen ist, die er pflichtschuldig erfüllt.
Doch diese Konstellation zu dritt geht nicht immer gut. Irgendwann kommen selbst die dunkelsten Geheimnisse ans Tageslicht – und Eifersucht plagt einen umso mehr, wenn man sich an der fernen Front nach dem zuhause gebliebenen Liebhaber sehnt. Die Briefe, die Arthur seinem Freund schreibt, sind wirklich von einer herzzerreißenden Sentimentalität und Leidenschaft geprägt. Mitunter war es mir zu gefühlsduselig, was Philippe Besson da zu Papier gebracht hat. Doch man muss ihm zugutehalten, dass er viele Gedankengänge schwuler Jugendlicher und junger Männer in eine verständliche und empathische Sprache gefasst hat.
Ich hatte zunächst offen gestanden meine Mühe mit „En l’absence des hommes“, Mühe, in den Weltkriegsstoff hineinzufinden und auch in den Wechsel zwischen verschiedenen Konstellationen, verschiedenen Personen, verschiedenen Perspektiven. Oft heißt es in „En l’absence des hommes“ bzw. „Zeit der Abwesenheit“ „Du sagtst:“, „Ich sage:“ oder „Sie sagen:“ und auf diese eine wörtliche Rede einführende Einleitung folgt ohne Anführungszeichen ein Zitat. Doch diese Zitate werden erneut abgebrochen, es folgen weitere Gedankengänge, weitere Zitate, und es ist nicht klar, wo das Zitat endet und die Erzählung erneut beginnt. Diese Mischung aus Erzählung, Zitat und Bewusstseinsstrom hat mich zumindest zu Beginn des Buches verwirrt, bis ich mich halbwegs daran gewöhnt hatte.
Insbesondere den Schluss des Werkes fand ich gelungen, nachdem die Dreiecksbeziehung sich aufgelöst hat. Vincent wendet sich dann der Mutter zu und versucht, mit dem Tod des Soldaten Arthur umzugehen. Dieser letzte Teil ist von einer überwältigenden Wucht, von einer ungebremsten Ehrlichkeit und zeugt von Lebenserfahrung, Empathie und Reflexion. Ebenso überwältigt haben mich die Briefe zwischen Arthur und Vincent, aber auch die zwischen Vincent und Marcel, die das Geschehen kurz vor dem Tod Arthurs beschreiben.
Besonders Marcel trifft immer den richtigen Ton, indem er nicht zu nahe tritt, aber doch für Vincent da ist. Bei Arthurs und Vincents Briefen habe ich mich gefragt, ob man damals wirklich so offen homosexuelle Themen über die Feldpost verschicken durfte, ohne zensiert zu werden. Gibt es für Soldaten an der Front nicht bestimmte Tabuthemen, die sie auch in der Post an die Heimat nicht thematisieren dürfen? So äußert sich Arthur teils auch kritisch über den Krieg, was ihm als aktiver Kämpfer im Krieg nicht erlaubt gewesen sein dürfte.
Philippe Besson zeichnet in „Zeit der Abwesenheit“ ein durchwegs aus unserer heutigen Sicht geprägtes Bild auf die Zeit des Ersten Weltkriegs und die damalige Gefühlslage homosexueller Menschen. Diese dürften sich bei Weitem nicht derart offen getroffen, ausgelebt und nicht so freizügig miteinander verkehrt haben. Auch wenn es in den 1920er Jahren in den europäischen Metropolen eine größere Freizügigkeit und Liberalität gab, so dürfte während des Ersten Weltkriegs für Homosexualität, Bisexualität etc. kein so großes Verständnis dagewesen sein, wie dies im Roman suggeriert wird.
Marcel Proust hat seine Homosexualität nicht öffentlich ausgelebt, auch wenn er sich mehrmals verliebt hat. Denn für seinen Stand hätte sich Homosexualität nicht geschickt. Er ging ins Bordell, um seiner Sexualität nachzugehen. Verschwiegenes und verklausuliertes homosexuelles Leben gab es, aber keine öffentliche und keine offizielle Billigung oder Enttabuisierung. Jemand wie Arthur konnte seine Sexualität im Geheimen und Stillen ausleben. Für Arthur bleibt die leidenschaftliche Liebe mit Vincent deshalb auf zuhause und die eigenen vier Wände begrenzt, sodass das Militär und sein Kampf an der Front davon nicht tangiert werden.
Machen wir es uns zu einfach, indem wir die Zeit des Ersten Weltkriegs im Nachhinein beschönigen? Nein, Philippe Besson stellt die Grausamkeit des Krieges über die Figur Arthurs dar. Er zeigt, wie sich der Krieg auf die Gefühlswelt der damaligen Menschen auswirkte, auf Mütter, Liebhaber und Angehörige. Doch wir sollten dem Romancier Philippe Besson, dessen Werk trotz allem durch seine einfühlsame und zartfühlende Art glänzt, nicht alles glauben.
Am Ende bleibt nur eine Frage: Weshalb sind die Werke Philippe Bessons auf Deutsch nicht besser erhältlich? Man muss, um die deutschen Werke zu erhalten, auf antiquarische Quellen zurückgreifen, und die neuesten Werke Bessons sind überhaupt nicht übersetzt worden. Nur „Hör auf zu lügen“, im Englischen „Lie with me“, Bessons Mega-Bestseller, zu dem im November auch der Film erscheint, wurde 2018 bei Bertelsmann als Hardcover aufgelegt. Angesichts der Tatsache, dass Besson jedes Jahr einen neuen, sich in Frankreich meist hervorragend verkaufenden Roman herausbringt, ist dies wirklich ein Armutszeugnis.
Bewertung: ⭐⭐⭐⭐ 3,5
Philippe Besson: Zeit der Abwesenheit. Aus dem Französischen von Caroline Vollmann. dtv Verlag. 8,50 €. (antiquarisch)