Es ist inzwischen ein Jahr her, und doch denke ich, dass es für einige interessant sein könnte, einen kleinen Überblick über die rentrée littéraire 2021 in Frankreich zu bekommen. In nächster Zeit werde ich ausprobieren, ob es auch für manche interessant ist, Rezensionen französischsprachiger Bücher zu erhalten – und dies ist der bescheidene Auftakt-Beitrag dafür.
Marc Dugain: La volonté.
Eines meiner absoluten Lieblingsbücher in der letzten französischen Büchersaison war „La volonté“ (dt. „Der Wille“), ein Buch, mit einem etwas rätselhaften und sehr allgemein gehaltenen Titel. Doch in Wirklichkeit handelt es sich um ein sehr persönliches Buch des Schriftstellers und Drehbuchautors Marc Dugain, der darin das Leben und Schicksal seines Vaters erzählt. Das bis heute bekannteste Werk von Dugain ist wohl Die Offizierskammer (frz. La chambre des officiers), ein mehrfach preisgekröntes Buch über die verwundeten und entstellten Soldaten, die aus dem Ersten Weltkrieg lebend, aber fürs Leben gezeichnet zurückkamen, die sog. „gueules-cassées“.
In La volonté geht es um das Leben des Vaters von Marc Dugain, dessen Bilanz der Autor zieht, als dieser gerade mit einer schweren Krebs-Krankheit im Sterben liegt. Aufgewachsen mit einer Mutter und einem abwesenden Vater in der Bretagne, musste der Vater als Kind seinen Willen und sein Durchhaltevermögen unter Beweis stellen, als er an einer Kinderlähmung erkrankte und zunächst nicht mehr laufen konnte. Er wollte eigentlich durch die Welt segeln wie sein Vater, der Seefahrer war, doch daraus wurde aufgrund der Erkrankung nichts.
Stattdessen muss der Vater sich zunächst zahlreichen Operationen und Behandlungen unterziehen und das Laufen wiedererlernen. Dadurch gewinnt er aber auch an Stärke und Willenskraft. Er lernt eine Frau kennen, die mit ihm durch die Welt reist, denn auf eine gewisse Weise verwirklicht er seine Reiseträume tatsächlich, allerdings schließlich als Beamter der französischen Kolonialverwaltung statt als Seefahrer, der sich auf Auslandsreisen begibt.
Neben der privaten und emotionalen Geschichte erzählt Dugain in diesem Buch auch die Geschichte des 20. Jahrhunderts: Zweiter Weltkrieg, Nachkriegszeit, Unabhängigkeitskämpfe der Kolonien und allmähliche Ablösung von Frankreich, Entwicklung der französischen Gesellschaft… Wir erleben so nicht nur ein Einzelschicksal, sondern ein Schicksal, das elegant mit Geschichtsschreibung verwoben wird. Mir hat diese wohldosierte Mischung aus individueller Geschichte und französischer sowie Weltgeschichte sehr gut gefallen.
Gallimard. 20 €.
Patrick Modiano: Chevreuse. / Unterwegs nach Chevreuse.
Patrick Modiano ist Literaturnobelpreisträger und im Grunde ein Garant für gute Literatur. Wer anspruchsvolle Bücher rund um seine Lebensthemen Erinnerung, Vergessen und Zeit lesen möchte, sollte unbedingt zu Modiano greifen, der sich durch diese thematisch-inhaltliche Wahl in eine namhafte Reihe mit Marcel Proust stellt, dem französischen Romanautor des 20. Jahrhunderts.
In seinem neuen Roman Unterwegs nach Chevreuse berichtet Modiano atmosphärisch dicht von der Suche nach einem Ort, der zugleich ein Nicht-Ort ist. Der Protagonist Jean Bosmans erinnert sich daran, dass er von einigen Leuten aus Paris an einen Ort auf dem Land namens Chevreuse mitgenommen wurde, an den sie mit dem Auto fuhren. Drei Jahrzehnte später wird er sich bewusst, dass an dieser Fahrt mit dem Autor nichts zufällig war, nicht der Weg, nicht der Name der Straßen Docteur-Kurzenne und auch nicht das Haus. Der Protagonist begibt sich auf Spurensuche – und muss dafür an den Ort zurückkehren und ins Zentrum einer Gruppe vordringen, die sich regelmäßig in Auteuil trifft.
Seine Suche führt ihn auf die Spuren von Camille, die nur „Totenkopf“ genannt wird, sowie Martine Hayward und der etwas zwielichtigen Personen rund um diese. In einem Verwirrspiel mit mehreren Ebenen und illusionären Falltüren führt der Autor nicht nur den Protagonisten auf seiner Suche hinters Licht, der sich immerzu an dem Ort Chevreuse festhält, den er von früher zu kennen meint, sondern auch die Leserinnen und Leser. Denn diese begleiten den Protagonisten Bosmans bei seiner in dahinplätschernder Sprache beschriebenen Suche, die letztlich an kein klar zu identifizierendes Ziel zu führen scheint. Und so bleibt am Ende nur die Erinnerung, einige Indizien, das Wissen um Chevreuse aber bleibt unklar.
Das Schöne an Patrick Modianos Büchern ist, dass sie einen in eine Zeit mitnehmen, die es nicht mehr gibt, in einer poetischen Weise, die man sonst in der Gegenwartsliteratur selten liest. Sie entführen einen in einen Hort von Erinnerung, Vergangenheit und Nostalgie, sodass man sich wie in einer verzauberten Welt fühlt, an einem märchenhaften Ort, den es gibt und doch nicht gibt. Und das ist doch ein Zeichen wahrer Literatur, oder nicht? Ein typisches Merkmal der Literatur à la Modiano: die Telefon-Nummer AUTEUIL 18-25, die der Protagonist nur zu bestimmten Zeiten anrufen soll, da sonst merkwürdige Gestalten hörbar sind. Bei Modiano ist alles ein wenig im Schatten und Vagen, man entdeckt ein mythisches Paris, einfach wunderbar…
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag. 22 €.
Clara Dupont-Monod: S’adapter.
Dieses Buch von Clara Dupont-Monod hebt sich dadurch von der Masse ab, dass es von den Steinen eines Hauses erzählt wird. Eine ungewöhnliche Idee, die aber erstaunlich gut funktioniert, da die Steine ein kollektives Wir bilden, aus deren Sicht die Geschichte dieser besonderen Familie in den Cévennen berichtet wird, in die hinein ein schwer behindertes Kind geboren wird. Es stellt sich rasch die Frage, wie die Familie damit umgeht. Jeder, der große Sohn und die jüngere Tochter sowie die Eltern müssen ihren Weg finden, mit der Behinderung des jüngsten Kindes zurechtzukommen – und jede/r reagiert auf seine Weise.
Das Buch besteht aus drei Kapiteln, von denen jedes einem der drei Kinder gewidmet ist. Der ältere Sohn möchte mit seinem Schutzinstinkt den jüngeren Bruder vor der Welt verteidigen, indem er ihn mit einer zärtlichen Liebe behandelt. Die jüngere Schwester hingegen entwickelt eine Art von Wut und Zorn, die sie nicht nur in sich hineinfrisst, sondern auch nach außen zeigt, da das familiäre Gleichgewicht durch die Ankunft des kleinen Kindes „gestört“ wurde.
Mit einer feinen Beobachtungsgabe und einem Gespür für das Zwischenmenschliche beobachtet Clara Dupont-Monod, was sich in der Familie abspielt, nachdem das schwer behinderte Kind seinen Platz innerhalb dieser einfordert. Wie entwickeln sich die einzelnen Personen? Und wie stehen sie zueinander? Wie gehen sie mit dem Kleinsten um? Es geht um Gefühle wie Scham, Hass, Schuld, Ekel (mit Blick auf die jüngere Schwester), aber auch das genaue Gegenteil, nämlich Liebe, Zärtlichkeit, Geborgenheit (mit Blick auf den älteren Bruder).
Ein gut beobachteter Roman über die familiären Dynamiken, die eine Krankheit oder sonstige Abweichung von der Norm mit sich bringen kann. Doch wie Clara Dupont-Monod am Anfang ihres Romans, Benoît Peeters und François Schuiten zitierend, schreibt: „Was soll das heißen, ,normal‘? Meine Mutter ist normal, mein Bruder ist normal. Ich habe keine Lust, wie sie zu sein.“
Stock. 7,70 €.
David Foenkinos: Numéro deux.
David Foenkinos ist einer derjenigen französischen Autoren, die regelmäßig auch in Deutschland eine große Leser/innenschaft finden. Letztes Jahr erschien sein neuester Roman in Frankreich, der die interessante Frage behandelt, wie es ist, für immer die Nummer zwei zu sein. Denn Foenkinos schreibt in diesem Werk über den jungen Martin, der sich im Alter von zehn Jahren als Filmdarsteller bewarb, um Harry Potter in den Filmen zu den Büchern von J. K. Rowling zu mimen.
In diesem Buch geht es deshalb auch um Harry Potter und das dazugehörige Universum, welches von Rowling erschaffen wurde und eine ganze Generation von Kindern und Teenagern begeisterte. Für Harry-Potter-Fans ist „Numéro deux“ deshalb eine Pflichtlektüre! Martin bewirbt sich also als Harry-Potter-Darsteller, wird fast genommen – und verliert seinen Platz im letzten Moment doch noch an den Konkurrenten Daniel Radcliffe, der ihn auf den zweiten Platz verbannt, wo er von nun an für den Rest seines Lebens festzusitzen scheint.
Nun beginnt die wahre Geschichte, die Foenkinos erzählt: Wie geht es mit dem Zweitplatzierten weiter, nachdem er die Chance auf schauspielerischen Erfolg und Ruhm knapp verlor? Wie geht er mit dem Wissen um, dass er Daniel Radcliffe hätte sein können, dessen Konterfei ihm auf den Filmplakaten, in Filmtrailern, Zeitungen und Magazinen entgegenblickt? Martin leidet von nun an unter allen Gelegenheiten, die ihn an seinen Misserfolg erinnern – und davon gibt es nicht gerade wenige, da Harry Potter und alles, was damit zusammenhängt, quasi omnipräsent ist.
David Foenkinos erweist sich auch in diesem Roman als ein psychologisch raffinierter Schreiber, der es versteht, in szenischer Weise zu erzählen. Manchmal hat man das Gefühl, einen Film zu betrachten, der aus aufeinanderfolgenden Szenen zusammengesetzt wird, so handwerklich gut – aber auch strategisch denkend – sind die Dialoge und die Erzählung inszeniert.
An „Numéro deux“ hat mir besonders gefallen, dass man aus einer völlig neuen Perspektive einen Einblick in das Harry-Potter-Universum bekommt, das man bereits zu kennen scheint, aber so noch einmal neu entdecken kann.
Gallimard. 19,50 €.