„Blutbuch“ hat dieses Jahr den Deutschen Buchpreis gewonnen und wurde gefeiert, weil es das Thema Non-Binarität, welches bisher in der deutschsprachigen Literatur nicht ausreichend Beachtung fand, auf eine sprachlich und künstlerisch innovative Weise behandelt. Beide Aspekte habe ich an „Blutbuch“ geschätzt, und doch muss ich im Rückblick sagen, dass ich mich mit dem Roman von Kim de l’Horizon auch schwergetan habe.
Eben weil der Gewinner des Deutschen Buchpreises kein klassischer Roman ist, keiner linearen Erzählstruktur folgt, habe ich mich entschieden, dass auch ich aus dem Raster der klassischen Rezension ausbrechen möchte und stattdessen eine Auflistung von positiven und negativen Seiten gegenüberstellen möchte, die dem Buch hoffentlich gerechter wird als eine reine Inhaltszusammenfassung mit anschließender Meinung/Kritik.
Was ich an „Blutbuch“ mochte:
… dass mit Sprache und Wörtern auf eine spielerische Art umgegangen wird, z. B. die Verwendung der Begriffe ‚Großmeer‘ (aus dem Französischen „la grand-mère“) und ‚Meer‘ (aus „la mère) für ‚Großmutter‘ und ‚Mutter‘, was zugleich auf das ‚Meer‘ bzw. ‚la mer‘ anspielt, in dem Kim de l’Horizon sprachlich und literarisch versinkt.
… dass Kim de l’Horizon die Uneindeutigkeit seines Geschlechts, d. h. seine Non-Binarität, zu einem zentralen Thema macht, und dafür eine neue Sprache und Ausdrucksweise sucht, da offenbar bekannte und bisher gebräuchliche Ausdrucksformen mit dieser condition d’être nicht vereinbar sind.
… dass Kim de l’Horizon sich, ausgelöst durch die Demenz seiner Großmutter, ohne Vorbehalte, aber auch ohne Grenzen des Denk- und Sagbaren daran macht, die Familiengeschichte und die Geschichte der transgenerationellen Traumata aufzuarbeiten.
… dass Kim de l’Horizon versucht, das schwule Dating- und Sexleben, in das er sich eine Zeitlang stürzte, in eine Sprache zu gießen und die (Selbst-)lügen schwulen Datings, z. B. die Bewunderung für bloße Männlichkeit, fremdartige, mit Rassismen verbundene Dominanz oder sichtbare Muskeln, bloßzustellen, auch wenn dies bisweilen sprachlich und geschmacklich schief geht.
… dass „Blutbuch“ auch eine Feier der Metaphern, der (Sprach-)Bilder und der kreativ freien Assoziationen ist, wenn der*die Autor*in z. B. seine Mutter als eiskalte Hexe empfindet, die man mit Wärmezaubern weichmachen muss, während die titelgebende Blutbuche im Garten als der schützende und zu bewahrende Übervater empfunden wird, deren Geschichte in einer ausufernden Recherche nachgezeichnet wird, und die Großmutter als drachenartiger Ersatzmutter mit Riesenhänden empfunden wird (um eine leicht psychologisierende Lesart vorzuschlagen).
… dass Kim de l’Horizon sich traute, alles zu sagen, „in den Schmerz zu gehen“, wie er es weinend während der Preisverleihung formulierte, und alle Grenzen des gesellschaftlich erwünschten Sagens und Denkens und geschmackliche Tabus hinter sich zu lassen.
… dass das Buch in der Tradition des stream of consciousness steht, der in einer „écriture fluente“ geschrieben ist, also dahinfließt wie ein Fluss.
Was ich an „Blutbuch“ nicht mochte:
… dass Kim de l’Horizon geschmackliche Tabus gebrochen hat, – z. B. während mancher der beschriebenen gleichgeschlechtlichen Sexszenen – die es für die Leser*innen bisweilen schwer macht, den Roman zu lesen, ohne sich ein wenig davon angewidert oder abgestoßen zu fühlen. Diese Schamhaftigkeit rührt nicht einmal daher, dass es um homosexuellen Sex geht, sondern dass mit einer Form von Enthemmung über Sexualität und Intimität gesprochen, die einem den Atem rauben kann.
… dass Kim de l’Horizont den Leser*innen seine Gefühle und Traumata wie in einer Art Psychotherapie aufdrängt, auch jenen Leser*innen, die das vielleicht als distanzlos empfinden können. „Blutbuch“ ist eine durchgängige Selbstbeschau, die sich an Bildern, Metaphern, Erfindungen, Gedanken aufhängt, die unabhängig und fließend auf einen eindringen. Doch das kann einem beim Lesen schnell zu viel werden.
… dass Kim de l’Horizon Hochkultur offenbar nicht wertschätzt oder gar missachtet, wenn er*sie etwa über Goethe scherzt. Die Autoren, die Kim de l’Horizon für seine Recherche über die Blutbuche nutzt, um Informationen über die Herkunft des Baumes Blutbuche zu erfahren, liest er zwar, geht dann aber dazu über, die Autoren in einer despektierlichen Art als Rassisten, Nationalisten und antiquierte Denker zu verachten, anstatt die erfahrenen Informationen wiederzugeben. Ein Sachbuch ist „Blutbuch“ definitiv nicht, sondern sehr subjektiv.
… dass Kim de l’Horizon in einer unreflektierten Art Anglizismen verwendet, die es für mich schwer macht den Text zu lesen. Ich vermute, die Verwendung von Anglizismen soll eine bestimmte Form der Distinguiertheit oder Coolness – distinction, distinction – zum Ausdruck bringen, doch für mich ist dieses aufgesetzte Nachäffen anglosächsischer Kultur in einem Roman für ein deutsches Publikum nicht ganz verständlich.
… dass Kim de l’Horizon fast obsessiv um einige wenige Themen kreist, etwa die Beziehung zu seiner „Meer“ und „Großmeer“, die für ihn zugleich eine Bedrohung als auch eine Art Übermutter darstellen, während der Vater fast außen vorgelassen wird. Auch die Blutbuche, die im Garten der Großmeer wächst, ist ein zentrales Motiv, das die Erzählinstanz nicht loslässt.
… dass der Roman keinen linearen Verlauf hat, ist kein Kritikpunkt, sondern ein Fakt, doch für die Leser*innen ist vor allem die fragmentierte Erzählweise de l’Horizons ein Problem, die er selbst im Roman zum Thema macht. Er könne nur bruchstückhaft erzählen, doch für mich stellt sich die Frage: Wieso muss man einen Roman aus Fragmenten zusammensetzen, wenn man an anderer Stelle einen stringent geschriebenen, linear verlaufenden klassischen Roman lesen kann, der zudem eine einheitliche Handlung mit Beginn, Ende und Schluss hat?
Insgesamt würde ich „Blutbuch“ jedem empfehlen, der sich für das Thema Non-Binarität interessiert, allerdings muss man sich auf eine schwierige Lektüre einstellen, die aber auch eine Bereicherung sein kann, wenn man sich darauf einlässt. Nicht jeder will sich aber wahrscheinlich darauf einlassen.
Kim de l’Horizon: Blutbuch. Dumont Verlag.
ISBN 9783832182083. 24 €.