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Drei Perspektiven: eine kleine Selbstvermessung

Im Spiegel meines Badezimmers sehe ich nicht mich, sondern drei Möglichkeiten.

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Der erste – nennen wir ihn F. – trägt immer noch diesen grünen Pullover mit dem leicht ausgebeulten Kragen, der ihm in den Jahren des Studiums so vertraut war wie sein eigener Atem. Er spricht leise, aber bestimmt, liebt grammatikalische Feinheiten, als wären sie kostbare Muscheln am Rand eines stillen Meeres. F. bleibt. Auch wenn alles um ihn her sich ändert, bleibt er in Klassenzimmern, zwischen Kreide und Korrekturen, ein Hüter der Ordnung im Chaos der Halbsätze und Schülerschicksale. Er glaubt an den Wert von Bildung wie andere an Gott. Seine Welt hat klare Ränder, aber sie ist durchlässig für das Menschliche. Seine Schüler merken das.

Der zweite – Fabian, vielleicht – ist eine Spur radikaler. Er geht durch Städte wie durch Gedankengänge, verliert sich in Straßencafés, in Gesprächen mit Fremden, in Notizen am Rand von Papierservietten. Er schreibt nachts, raucht nicht, aber denkt, als würde er pausenlos inhalieren. Fabian zweifelt mehr, als er glaubt. Und doch findet er in der Bewegung, in der ständigen Flucht nach vorn, eine merkwürdige Form von Halt. Vielleicht wäre er fortgezogen. Vielleicht hat er das längst getan. Vielleicht lebt er in einer kleinen Wohnung über den Dächern einer Stadt, die es gar nicht gibt, und schreibt an einem Roman, den er nie abschicken wird.

Der dritte – Ich, jetzt – sitzt dazwischen. Zwischen Beruf und Berufung. Zwischen Sicherheitsdenken und Selbstverlust. Ich schreibe diesen Text, weil ich glaube, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt, sondern viele. Ich versuche zu leben, ohne mich zu verlieren. Und ich frage mich oft, ob ich noch alle Stimmen in mir höre – oder ob eine von ihnen längst verstummt ist. Oder ob eine neue dazugekommen ist, leiser, älter, nicht mehr ganz so hungrig, aber dafür klüger.

Drei Varianten desselben Namens. Dieselbe Handschrift auf unterschiedlichen Papieren.
Am Bahnhof, wenn der Zug einfährt, sehe ich sie manchmal alle – in den Spiegeln der Wagons, in den Gesichtern der Mitreisenden, in dem kurzen Zögern, bevor ich einsteige. Sie gehen neben mir, schweigend, aber spürbar.

Und immer frage ich mich:
Wer von uns fährt heute mit?
Und wer bleibt zurück, winkt kaum merklich, dreht sich um, geht wieder in seine Welt?

Manchmal wünsche ich mir, wir könnten uns alle drei an einen Tisch setzen. F. mit seinen Schulbüchern, Fabian mit seinen Notizheften, und ich mit meinem Glas Wasser, dazwischen. Ich stelle mir vor, wie wir uns ansehen. Keine Vorwürfe, nur Erkennen.
Vielleicht würden wir schweigen. Vielleicht würde einer sagen: „Ich hatte recht.“ Vielleicht würden wir alle lachen.

Vielleicht aber würden wir schweigend weitergehen, nebeneinander.
Drei Schatten auf dem Asphalt.
Drei Ichs.

Und jedes trägt ein Stück von mir.

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