Wenn zwei Künstler von internationalem Renommee sich über Kunst und Politik unterhalten, ist das von Interesse. Das gilt auch für das Gespräch zwischen dem französischen Schriftsteller und Intellektuellen Édouard Louis und dem britischen Regisseur Ken Loach. Beide widmen sich in ihren engagierten Werken immer wieder den Deklassierten und Ausgegrenzten, um ihnen Gehör zu verschaffen.
Mit dem Begriff der Ausgrenzung steigt Louis auch in den ersten Dialog mit Loach ein, indem er darauf verweist, dass man zwar häufig von den gesellschaftlich Ausgegrenzten spricht, wenn man arme Menschen meint, aber dass die damit bezeichneten Menschen durch staatliche Gewalt sogar verfolgt werden. Er bringt dabei das Beispiel seines Vaters, dem Jahre nach einem Arbeitsunfall, der ihn arbeitsunfähig machte, die Invalidenrente vom französischen Staat aberkannt wurde.
Louis denkt auch an andere Arten der Verfolgung wie Rassismus. Doch sein Lebensthema ist die Armut, aufgrund derer Menschen Gewalt erfahren. Auch Ken Loach hat in seinem Filmdrama „Ich, Daniel Blake“ gezeigt, wie der arbeitslose Protagonist von den staatlichen Behörden drangsaliert wird und dagegen aufbegehrt. Loach verweist darauf, dass das Sozialsystem in Frankreich und England inzwischen auf Bestrafung setzt, worin eine gewisse Grausamkeit stecke, statt Solidarität zu üben. Um dem ein Ende zu setzen, fordert er uns alle dazu auf, mehr aufeinander zu achten.
Manchmal sind die Gespräche zwischen Louis und Loach rein intellektueller oder auch etwas hermetischer Natur. So freut sich Édouard Louis darüber, wenn eine Fabrik schließt, egal wo, weil er in seiner Kindheit erlebt hat, wie die Männer in seinem Dorf in Nordfrankreich sich kaputt arbeiten mussten und erschöpft von der Fabrikarbeit, zu der es für sie keine Alternative gab, nach Hause kamen. Loach scheint auf die Eingebungen und Ideen des deutlich jüngeren Louis manchmal mehr zu reagieren, als selbst das Gespräch zu lenken. Das tut er aber auf eine äußerst angenehme, nicht aufdringliche und moderierende Weise.
Auch in der Familie von Loach gab es viele Bergmänner, so wie bei Édouard Louis die Männer Fabrikarbeiter waren. Loach bewundert an dieser Arbeit, dass es eine starke Gemeinschaft unter den Kollegen gab, die allerdings ebenso wie andere Traditionen mit dem Aus der Zechen in den 80er und 90er Jahren ein Ende nahm. Louis sieht, aus der Perspektive des schwulen Kindes in der Region, wo er aufgewachsen ist, Gemeinschaften von Männern wie die der meist heterosexuellen und weißen Bergmänner auch kritisch, da sie queere Menschen potentiell ausschließen und abwerten und durch männliches Dominanzgebahren geprägt sind.
Als einen Ausweg sieht Louis das Internet, mit dessen Hilfe die Menschen sich eigene, selbst gewählte und freiere Gemeinschaften aufbauen können. Mit dem Internet können auch Menschen, die auf dem Dorf aufwachsen und früher isoliert gewesen wären, sich mit gleichgesinnten Personen oder Menschen mit ähnlichen Interessen zusammenschließen. Zugleich kann man sich so auch Gemeinschaften vor Ort verweigern. Loach sieht auch neue Möglichkeiten im Internet, doch insbesondere legt er Wert auf materielle Sicherheit, denn „die Leute sind vor allem dann weitherzig, wenn sie sich in Sicherheit fühlen [… u]nd intoleranter, wenn sie dieses Gefühl nicht haben.“
Louis ist auch selbstreflektiert genug, um sich selbst die Frage zu stellen: „Wenn ein Arbeiter zu mir sagt: ,Aber ich will doch in der Fabrik weiterarbeiten‘, kann ich ihm dann antworten: ,Nicht doch, die Fabrik bedeutet Entfremdung und Gewalt, das kannst du nicht wollen?‘ Wer soll für einen anderen entscheiden, was Gewalt ist? Es gibt keine einfachen Antworten.“ Insgesamt macht Loach aber den reflektierteren und reiferen Eindruck in dem Gespräch, da er weniger als Édouard Louis von seiner eigenen Kindheitserfahrung aus denkt und mehr von allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Eindrücken, die er in der Welt gemacht hat. Dies liegt sicherlich auch an dem reiferen Alter von Kevin Loach, der 1936 in Nuneaton östlich von Birmingham geboren ist.
Dennoch soll dies das Verdienst der beiden Gesprächspartner nicht schmälern, da beide ihre eigenen Erfahrungen und Kenntnisse einbringen, die sich je nach Alter, Herkunft und Lebenserfahrung voneinander unterscheiden. So entsteht ein kultivierter und engagierter Dialog in zwei Teilen „über Kunst und Politik“. Der erste Teil, überschrieben mit „Arbeit und Gewalt“, mindestens ebenso spannend wie der zweite Teil, dessen Titel „Politik und Transformation“ lautet. Im zweiten Teil geht es um die Krise der linken Parteien und der Gewerkschaften und den Aufstieg der rechten und rechtspopulistischen Parteien in Europa, wie Marine Le Pen in Frankreich, PiS in Polen oder Meloni und Salvini in Italien.
Angesichts der seit Wochen anhaltenden Streiks gegen die Rentenreform in Frankreich ist auch dieses Thema, der gewerkschaftliche und linke Kampf, wieder aktuell wie eh und je, wobei die Linke in Frankreich stark gespalten ist. 70 % der Franzosen sind dagegen, den Renteneintritt von 62 Jahren auf 64 Jahre anzuheben. Da auch im Parlament die Mehrheit ungewiss war, wandte Macrons Premierministerin Élisabeth Borne den nicht ganz unumstrittenen Artikel 49.3 an, der es erlaubt, eine Gesetzesänderung am Parlament vorbeizuschleusen. Auch das Misstrauensvotum, das damit einherging, überstanden Macron und seine Premierministerin, doch die gesellschaftliche Stimmung in Frankreich ist seitdem vergiftet und stark zerrissen, der Präsident geschwächt.
Auch daher lohnt die Lektüre von gesellschaftspolitisch engagierten Autoren wie Édouard Louis, Annie Ernaux oder Didier Éribon… und auch von dem Gespräch zwischen Édouard Louis und Ken Loach. Letzteres bewegt sich in der ruhmreichen französischen Tradition eines Jean-Paul Sartre oder Albert Camus, von Künstlern also, die Kunst immer auch als mit gesellschaftlichem Engagement verbunden dachten. Diese Philosophie atmet der hier vorliegende Gesprächsband, nicht die schlechteste Voraussetzung für ein spannendes Gespräch, zumal die Künstler auch für Fragen aus dem Publikum offen waren und damit tatsächlich in einen Dialog traten.
Bewertung: ⭐⭐⭐⭐ 4/5
Édouard Louis/Ken Loach: Gespräch über Kunst und Politik. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer Verlag. 17 €.