Ein Roman über den Prozess zu den Attentaten des 13. Novembers: Was zunächst nach einer langatmigen Lektüre klingt, macht Emmanuel Carrère, der bereits mit anderen Werken als versierter Autor hervortrat, zu einer gleichermaßen berührenden wie lehrreichen Lektüre, die man nicht mehr so schnell vergessen wird.
V13: une chronique judiciaire ist das neueste Werk Emmanuel Carrères überschrieben. „V13“ steht dabei für den „vendredi 13 novembre 2015“, den 13. November 2015, als an mehreren Orten im 10. und 11. Arrondissement von Paris islamistische Attentäter koordinierte Anschläge verübten, unter anderem vor dem Stade de France, in dem gerade Deutschland gegen Frankreich spielte, in verschiedenen Cafés und in dem Konzertsaal Bataclan, in dem gerade ein Rockkonzert stattfand. Durch die Attentate starben laut französischer Regierung insgesamt 130 Menschen, beinahe 700 wurden verletzt, davon 97 schwer.
Der Prozess, der von September 2021 bis Juni 2022 verhandelt wurde, sollte nicht „procès du Bataclan“ heißen, und doch dreht sich das Buch „V13“, dreht sich der Prozess hauptsächlich um die Opfer des berühmt gewordenen grausamen Bataclan-Attentats, im Laufe dessen die Täter wild mit Kalaschnikows um sich geschossen haben, Handgranaten in die Menge warfen, Geiseln nahmen und sich bei Eingreifen der Polizei mithilfe von Sprengstoffgürteln selbst in die Luft jagten. Die Täter, das war unter anderem der Kopf hinter den Attentaten Abdelhamid Abaaoud, der sich 2013 dem IS anschloss und in Belgien terroristische Anschläge vorbereitete.
Er war in guten Verhältnissen aufgewachsen und hatte sich doch in Syrien radikalisiert. Er scharte eine Gruppe von Leuten, eine Zelle künftiger Terroristen, um sich, die mit ihm in dem inzwischen als Terroristenbrutstätte bekannten Brüsseler Viertel Moolenbeek aufgewachsen waren und bereitete die Anschläge vor, die 2015 stattfinden sollten. Von den tatsächlichen Attentätern des 15. November war beim Prozess in Paris nur Salah Abdeslam angeklagt, den Carrère in seinem Buch als „Star des Prozesses“ bezeichnet. Er war der Bruder von Barhim Abdeslam, der sich im Café Voltaire in die Luft gesprengt hat.
Wer nun noch auf der Anklagebank sitzt, das sind Leute wie Mohamed Abrini – Freunde der eigentlichen Attentäter, die bei den Vorbereitungen halfen. Aber auch jemand wie Osama Krayem, der bei Attentaten in Paris und Brüssel beteiligt war, oder Sofien Ayari, der in Syrien war und bereits in Belgien für terroristische Anschläge zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde. Die Profile der Attentäter unterscheiden sich und doch sind sie alle durch ihre Herkunft und ihre Lebensläufe früher oder später in die Fänge der Radikalen, des Islamismus gelangt, ob willentlich oder zufällig muss das Gericht entscheiden.
Carrères Buch basiert auf den Gerichtschroniken, die er während des Prozesses in verschiedenen europäischen Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht. Der Schriftsteller war von Anfang an bis zum Ende Teil der Presse, die den Prozess begleitete und einer der drei Journalisten der französischen Wochenzeitschrift L‚Obs. Während die anderen beiden Journalisten für die tägliche Berichterstattung zuständig waren, verfasste Carrère eine wöchentliche Kolumne mit mehr Zeichen, deren Umfang im Laufe der Zeit anwuchs, aber immer auf zwei Seiten passen musste, wie Grégoire Leménager in seinem Nachwort schreibt.
In dem Buch V13, das auf diesen wöchentlichen Kolumnen basiert, aber für die Veröffentlichung noch erweitert wurde, erleben wir den Prozess mit den Beobachtern der Presse mit, wir lernen die Angeklagten kennen, wir lernen die Opfer von ihrer verletzlichsten Seite kennen, wir lernen die Funktionsweisen eines enorm schwierigen Strafprozesses mit riesiger Tragweite und Symbolik kennen, wir erhalten Einblicke in die Aufmerksamkeitsökonomie, die mit einem derartigen Prozess verbunden ist: Die meisten Journalisten kommen am Anfang und am Ende sowie bei dem Auftritt von François Hollande.
Am interessantesten an dem Buch fand ich den Teil über die Opfer, da er die Sicht derjenigen wiedergibt, die mit den Folgen der Attentate leben müssen. Es geht sowohl um Opfer, die Angehörige verloren haben, als auch um solche, die die Anschläge überlebt haben, weil sie sich verstecken oder fliehen konnten und nun mit den Erinnerungen leben müssen. Oder um solche, die sich als Opfer ausgaben, aber im Grunde keine Verbindung zu den Attentaten hatten, um die Aufmerksamkeit zu erhalten, die sie in ihrem Leben bisher vermisst hatten.
Ein Vorzug des Buches von Emmanuel Carrère ist, dass der Terrorismus in allen Aspekten diskutiert wird. Carrère verweist auf zahlreiche andere Bücher in Zusammenhang mit dem 13. November 2015, wie zum Beispiel „Vous n’aurez pas ma haine“ von Antoine Leiris oder „Il nous reste les mots“ von Georges Salines und Samy Amimour. Carrère lässt Opfer wie Täter gleichermaßen zu Wort kommen, er übt keine Vorverurteilung, er schreibt die Biographien der Täter in ausgewogener Weise auf, ohne sie als Unmenschen zu verurteilen.
Beinahe scheint es manchmal, als hätte er Sympathien im Laufe dieses langen Prozesses für den ein oder anderen Täter entwickelt. Und so kommt es auch, dass Carrère die Täter nicht zensiert, wenn sie behaupten, dass die 130 Opfer in Frankreich nur das aufwiegen, was Frankreich durch Drohnen und Krieg im Nahen Osten angerichtet habe.
Tatsächlich ist es nicht ganz einfach, auf folgendes Argument eine Antwort zu finden: Wieso erweckt ein terroristischer Anschlag auf 130 Französinnen und Franzosen bei uns so viel Aufmerksamkeit, während ein Drohnenangriff im Nahen Osten, in Syrien oder im Irak, bei dem Zivilisten sterben, nur eine Randnotiz bleibt? Doch in keiner Weise darf dieser Vergleich die Inhumanität rechtfertigen, die Terroristen an den Tag legen. Menschen mutwillig und grundlos zu töten, noch dazu in grausamer und barbarischer Weise, dieses Recht darf niemand sich zu eigen machen.
Der Prozess, der in „V13“ besprochen wird, ist die Antwort auf die Barbarei, auf die Unmenschlichkeit, auf die rohe Gewalt, auf den Ausbruch aus der Zivilisation, es ist der Versuch, das zu sanktionieren, was eigentlich unvorstellbar sein sollte und was es dennoch in unseren Gesellschaften immer wieder gibt: den Terrorismus, der keine Regeln und Gesetze anerkennt und paradoxerweise doch mit diesen von ihm ignorierten Regeln und innerhalb dieser vom Staat gesetzten Grenzen bestraft werden muss.
Eine Empfehlung für alle, die sich für Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit interessieren. Denn Carrères „chronique judiciaire“ ist keine gewöhnliche Prozessberichterstattung, sondern mehr als das. es geht um Fragen des Rechts, der Gerechtigkeit, der Moral. Es geht darum, alle zu Wort kommen zu lassen und alle Seiten zu hören. Es geht aber auch darum, die Fakten darzustellen und nachzuvollziehen, um sich letztlich eine Meinung zu bilden. Dass Carrère den Lesern keine Meinung aufzwingt, keine Moral vorgibt, sondern manches offen lässt und Fragen stellt, statt alle Fragen zu beantworten, macht diesen Prozessbericht, dieses Sachbuch zu etwas Besonderem.
Bewertung: ⭐⭐⭐⭐ 4/5
Emmanuel Carrère: V13. Chronique judiciaire. Éditions P.O.L. 22 €.