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„Le jeune homme“ von Annie Ernaux

Der Kurzroman „Le jeune homme“ ist das aktuelle Werk der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, das bisher nur auf Französisch erschienen ist. Am 16. Januar 2023 wird das dann 48-seitige Buch unter dem Titel „Der junge Mann“ bei Suhrkamp, dem deutschen Hausverlag von Ernaux, auch auf Deutsch erscheinen. Ich rezensiere hier die französische Version des Textes.

Ernaux beschreibt sich als „Ethnographin ihrer selbst“, diese Bezeichnung hat sie sich selbst in ihren vergangenen Werken wie „Die Jahre“ (frz. „Les années“), „Die Scham“ („La honte“) etc. bereits erarbeitet. Ein Kennzeichen von Ernaux‘ Schreibstil ist es, dass sie persönliche Erinnerungen mit politisch-sozialen Ereignissen verbindet und in den persönlichen Erinnerungen an die eigene soziale Herkunft und den eigenen sozialen Aufstieg etwas Allgemeingültiges sucht.

Geboren wurde Ernaux in der Normandie, wo sie auch aufgewachsen ist. Ihre Eltern betrieben einen Krämerladen (café-épicerie) in Yvetot, sie selbst schaffte den Bildungsaufstieg, indem sie zunächst eine private katholische Mädchenschule besuchte, in der üblicherweise nur die Kinder besser gestellter Eltern beschult wurden. Daraufhin studierte Annie Ernaux, machte das CAPES, die agrégation und wurde Lehrerin. (vgl. für die Biographie der Autorin hier) Bereits in dieser Zeit begann Ernaux zu schreiben und zu veröffentlichen. Ihr erstes Buch, Armoires vides, das bis heute nicht ins Deutsche übersetzt ist, erschien 1974 bei Gallimard.

In ihren Werken schreibt Ernaux zum Beispiel über die Entdeckung ihrer Sexualität in einem Ferienlager, in dem sie als Betreuerin während ihres Studiums arbeitete, („Mémoire de fille“/“Erinnerung eines Mädchens“) über ihre Abtreibung, die sie vornahm, während dies in Frankreich noch illegal war, („Das Ereignis“) oder über eine Affäre zu einem Geschäftsmann („Passion simple“). Auf Deutsch sind bei Suhrkamp bislang vor allen Dingen jene Werke erschienen, in denen sie sich mit ihrer eigenen Familie und ihrer familiären Biographie befasst, wobei die familiären Ereignisse (z. B. in „Die Jahre“) stets mit dem gesellschaftlich-politischen Kontext verwoben werden.

In dem jetzt veröffentlichten Werk „Le jeune homme“ bzw. „Der junge Mann“ geht es – wie in dem bereits verfilmten Roman „Passion simple“ – um eine Affäre, dieses Mal allerdings mit einem wesentlich jüngeren Mann, der fast 30 Jahre jünger ist als die Autorin. Der Student verlässt seine bisherige Freundin für seine neue Liebhaberin, die ihn an den Wochenenden in Rouen besucht. Die beiden verbindet eine leidenschaftliche Beziehung, die vor allem aus einer intensiv gelebten Sexualität besteht.

Man hat bei der Lektüre den Eindruck, dass diese Beziehung für beide auf Dauer nicht gesund sein kann, nicht wegen des Altersunterschiedes, sondern weil sie so übermäßig intensiv ist, dass der frenetische Rhythmus, mit dem das Verhältnis beginnt, nicht dauerhaft aufrecht erhalten werden kann. Für Ernaux ist das Verhältnis zu dem jüngeren Studenten auch eine Möglichkeit, sich erneut mit ihrer Vergangenheit zu verbinden, denn sie erkennt an ihm Verhaltensweisen und Eigenschaften wieder, die sie an ihre Kindheit und Jugend erinnern.

Der Student ist arm, so wie sie, als sie noch jünger war, seine Eltern wohnen in der Pariser banlieue, also den Vororten von Paris. Ein wenig Nostalgie schwingt in diesem Verhältnis sicher auch mit, denn einerseits scheinen die Verhaltensweisen des Studenten Ernaux ein wenig abzustoßen, andererseits scheinen sie sie auch zu faszinieren. Sie nimmt sie wahr, analysiert sie, schreibt sie auf. Der Student wird zu einer Art Beobachtungsobjekt, welches sie schreibend verarbeitet und aufarbeitet.

Am Anfang des Buches vergleicht Ernaux das sexuelle Vergnügen mit dem Vergnügen, welches sie beim Schreiben empfindet. Vielleicht steckt in diesem Satz das ganze Geheimnis dieses Büchleins: Aus der Sexualität wird ein Buch, und beide Arten des Vergnügens sind für Ernaux untrennbar miteinander verbunden. An anderer Stelle sagt Ernaux, dass sie mit dem jungen Studenten alle Phasen ihres Lebens noch einmal durchlaufe. Vielleicht lag genau darin der Reiz der Beziehung für sie begründet, noch einmal jung und arm zu sein, und es zugleich nicht zu sein.

„Le jeune homme“ (dt. „Der junge Mann“) ist nicht Ernaux‘ bestes Buch. Es ist zu kurz, um einen nachhaltig zu beeindrucken. Zurück bleibt nur der etwas fade Beigeschmack einer überwältigenden Affäre, die zuletzt auch ebenso wieder endet. Die Autorin versucht zwar auch, die gesellschaftlichen Implikationen ihres Verhältnisses zu beschreiben, indem sie zum Beispiel die Reaktionen der Passanten auf das ungleiche und nicht gleichaltrige Paar schildert. Doch letztlich reicht das nicht, um den Eindruck eines rasch gestrickten Buches abzuwehren, das bei weitem nicht an die weitaus analytischeren und klügeren Vorgängerbücher wie „Die Scham“ oder „Die Jahre“ heranreicht.

Ernaux erhielt den Nobelpreis für „ihren Mut und ihre klinische Scharfsinnigkeit, mit der sie die Wurzeln, Entfremdung und die kollektiven Zwänge persönlicher Erinnerungen aufdeckt“. Als Preisträgerin ist sie nicht gänzlich unumstritten, da sie die BDS-Bewegung unterstützte, die einen Boykott Israels fordert.

Bewertung: ⭐⭐⭐⭐ 3,5/5

Annie Ernaux (2022): Le jeune homme. Paris: Gallimard.
ISBN 2072980089. 8 €.

Annie Ernaux (2023): Der junge Mann, übersetzt von Sonja Finck. Berlin: Suhrkamp. ISBN 3518431102. 15 €.

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