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„Missouri“ von Christine Wunnicke

Der Albino Verlag veröffentlicht Christine Wunnickes Erzählung „Missouri“ neu: eine Geschichte über eine Zufallsbegegnung zwischen dem verfeinerten englischen Dichter Douglas Fortescue, der aus England in die Neue Welt fliehen muss, und seinem Entführer, dem Wild-West-Banditen Joshua Jenkyns. Die Pointe: Der Räuber ist von der Dichtung seines Opfers begeistert und verliebt sich daher in deren Urheber…

Christine Wunnicke, die in München lebt, arbeitet seit 1991 als freie Autorin, sie veröffentlicht Romane und schreibt Radiofeatures und Hörspiele. Zwischen 2015 und 2020 schafften es drei ihrer Werke auf die Longlist des Deutschen Buchpreises, „Die Dame mit der bemalten Hand“ gelangte schließlich auf die Shortlist und erhielt den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis. Oftmals geht es in Wunnickes Romanen um historisch verbürgte, etwas exzentrische Persönlichkeiten, die in ihren Büchern ein Eigenleben entwickeln.
Dies gilt auch für die Figuren in der Erzählung „Missouri“: Ein wenig schräg sind alle Hauptcharaktere der Erzählung, was dazu beiträgt, dass der Text und die Handlungsträger im Gedächtnis bleiben.

Eine kurze Vorbemerkung: Die Erzählung „Missouri“ entstand bereits in den 90er Jahren und erschien in leicht veränderter Form als Teil von Wunnickes erstem Roman „Fortescues Fabrik“ (1998, Knaus Verlag). Der Albino Verlag, der zum Salzgeber Verlag gehört, hat den Text nun ebenso wie Wunnickes „Die Kunst der Bestimmung“ in einer eigenen Ausgabe ins Programm aufgenommen. Passend zum Thema queere Liebe im Wilden Westen prangen auf dem Umschlag der neuen Version von „Missouri“ zwei übereinander gelegte Pistolen vor lilafarbenem Grund.

In einer Sprache, die sich auf das Wesentliche beschränkt, die mit Zuspitzungen, Aufzählungen, Steigerungen arbeitet, und mit leisem Witz und Ironie schildert uns Christine Wunnicke die kurze Geschichte des Dichters und des Verbrechers, die sich in kurzen Episoden wie die Akte eines Theaterstücks auf der Bühne entwickelt. Allerdings handelt es sich nicht um fünf Akte wie in einem klassischen Drama, sondern um 15 Kapitel, also das dreifache.

Man schreibt das Jahr 1832 in Manchester, als der 22-jährige Douglas Fortescue beschließt, die englische Dichtkunst zu reformieren, obwohl er Dichter eigentlich nicht leiden kann. Er entscheidet sich, die Reime wegzulassen, „[d]enn Reime, fand Douglas, seien mühsam und antiquiert“. Mit seinem Gedicht, das in London erscheint, „Thirst“ wird der Autor über Nacht berühmt.

Es wurde beschlagnahmt, verboten, von Experten begutachtet, wieder freigegeben, rezensiert und erneut verboten, was den Umsatz noch einmal steigerte. […] Es handelte von Blut und einer Frau namens Claire.

Douglas Fortescue lebt das Leben eines extravaganten Dandy. Er feiert seinen Geburtstag und das Erscheinen eines neuen Buches in einem Palais in London und nimmt verschiedene Drogen: Chloroform, Laudanum, Absinth. Sein Bruder Jeremy heißt die Ausschweifungen und Spleens seines Bruders nicht gut, vor allem da seit Jahren die Sittenwächter der Gesellschaft darauf warten, dass sich der „Fatal Fortescue“ getaufte Dichter einen verurteilenswerten Fehltritt leistet.

In dem parallelen Erzählstrang im Wilden Westen – die Kapitel spielen zunächst abwechselnd in England und in den Vereinigten Staaten – findet Joshua Jenkyns, der Sohn eines Verbrechers und einer Ureinwohnerin, in der Westentasche eines seiner ersten Opfer ein Buch mit Gedichten von Lord Byron.

Joshua lässt sich von einem Pfarrer das Lesen beibringen – keine typische Fähigkeit eines durch die Gegend streifenden Ganoven. Als er imstande ist, die Buchstaben allein zu entziffern, zieht er sich hin und wieder von seinen Männern zurück, um in Lord Byrons Gedichten zu schmökern:

Er brach auf, die Männer hinter sich, Lord Byron neben sich, ein unsichtbarer Begleiter. Joshua liebte ihn sehr. Nur manchmal beschlich ihn ein leises Missvergnügen, denn eines störte ihn an seinem Freund: dessen fortwährende, hartnäckige, fast ein wenig blödsinnige Reimerei.

Bei einem Überfall von britischen Gentlemen in der Nähe des Mississippi findet Joshua ein weiteres Buch mit Gedichten: Douglas Fortescues‘ „Colours“. Gedichte ohne Reime, die der verschwiegene Ganove nicht völlig versteht und dennoch immer wieder liest und liest. An die Stelle von Lord Byron tritt nun Fortescue.

Zwei Göttern hielt Josh Jenkyns fortan die Treue, mit all dem Starrsinn seiner ungefähr sechzehn Jahre: dem Dichter und dem Fluss, Fortescue und dem Missouri.

In London wird Fortescue 1841 wegen Betrugs und Sodomie belangt. Sein Bruder rät ihm zur Flucht. Die beiden schifften sich nach Amerika ein. Dort angekommen werden die Reisenden während einer Kutschfahrt in der Nähe von Carrolton von Ganoven überfallen, wobei dies – wie der Zufall es will – genau die Räuberbande ist, die von Joshua Jenkyns angeführt wird, dem Verehrer von Fortescue. Die Banditen fordern zunächst alle Wertgegenstände und Geld der Männer.

Doch als Joshua erfährt, dass sich Douglas Fortescue unter den Reisenden befindet, kennt er nur noch ein Ziel: Er möchte Fortescue mit sich nehmen. So wird der Dichter vor den Augen seines hilf- und ratlosen Bruders entführt: Was wollen die Wilden mit Douglas anfangen? Douglas muss sich wohl oder übel an das Leben unter einer Bande herumziehender Banditen gewöhnen, denn er kann sich aus eigener Kraft aus den Fängen seiner Entführer befreien.

Der Dichter erhält von Joshua Jenkyns zum Staunen der übrigen Männer ein eigenes Pferd und Stiefel, sodass sich die Geisel bald eher wie ein persönlicher Schützling des Anführers vorkommen muss. Und tatsächlich entwickelt sich zwischen den beiden Hauptfiguren eine ganz spezielle Liebesgeschichte, die zu der Stille, Ödnis und Einfachheit des Wilden Westens passt: Es wird nicht viel gesprochen, man zieht auf Pferden umher, teilt das Essen miteinander, macht Überfälle und schläft am Nachtlager Seite an Seite, man benutzt die Revolver und rettet sich gemeinsam vor Verfolgern.

Eines Morgens erwacht Douglas Fortescue, als Joshua ihm seinen Revolver vor das Gesicht hält. „Ich liebe Sie, Mister“, sagt Joshua dann. Diese Szene illustriert die knisternde Spannung zwischen den so unterschiedlichen Charakteren Douglas Fortescue und Joshua Jenkyns, einem feinen Dichter und einem vagabundierenden Ganoven. Natürlich lässt sich daraus eine wunderbare Erzählung entwickeln, denn die beiden fühlen sich trotz der anfänglichen Entführung voneinander angezogen und Jenkyns möchte „seinen“ Douglas Fortescue, einen seiner Meinung nach prophetischen Poeten, nicht mehr ziehen lassen.

Doch während die beiden Männer sich miteinander verbünden, schmiedet dessen Bruder Jeremy Pläne, den von „Little Josh“ Entführten zu befreien, indem er eine Gruppe von kampferprobten Männern anheuert. Anfangs hatte er noch gehofft, dass die Behörden tätig werden, doch dann schnell gemerkt, dass er sein Schicksal selbst in die Hand nehmen muss. Am Ende kommt es zur Konfrontation zwischen Jeremys Söldner-Truppe und der Ganoven-Bande in der Nähe des Flusses.

Es ist eine merkwürdige Konstellation, die Wunnicke gegen Ende des Textes aufbaut: ein Verbrecher, der sich in einen englischen Dichter verliebt und diesen entführt hat, dessen frühere Geisel Douglas, der sich mit seinem Entführer angefreundet hat und deshalb nicht mehr befreit werden möchte, und der mit ihm aus England geflohene Jeremy, der seinen Bruder mit allen Mitteln retten möchte. Dass diese Dreierkonstellation ungesund ist und die Jagd auf Joshuas Bande gegen Ende nur tragisch enden kann, ist vorhersehbar. Spannend und unterhaltend liest sich das Finale dennoch.

Wer gekonnte Erzählkunst auf engem Raum mit etwas verschrobenen Figuren schätzt, wird Christine Wunnickes „Missouri“ mögen. Mehr Fortescue gibt es in dem Debütroman „Fortescues Fabrik“ aus dem Jahre 1998, der allerdings nur noch antiquarisch erhältlich ist.

Bewertung: 5/5

Bibliographische Angaben:
Autorin: Christine Wunnicke
Titel: Missouri
Verlag: Albino Verlag
Erscheinungsdatum: 23.11.2020
Seitenzahl: 112 Seiten
ISBN: 9783863003081
Kaufpreis: 16 €

Vielen Dank an den Albino Verlag für das Rezensionsexemplar! Die Tatsache, dass es sich um ein Leseexemplar handelt, beeinflusst meine Bewertung nicht.

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