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Aus dem Lyrikkabinett: „Frauen | Lyrik. Gedichte in deutscher Sprache“ (Hrsg. Anna Bers)

Die Anthologie „Frauen | Lyrik“ (Hrsg. Anna Bers) widmet sich in mehr als 500 Gedichten und auf beinahe 900 Seiten der Lyrik von und über Frauen. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag zu mehr Sichtbarkeit weiblicher Dichtung. Denn Dichterinnen waren in Gedichtsammlungen bisher regelmäßig unterrepräsentiert.

Der Band versammelt Gedichte aus zehn Jahrhunderten vom Mittelalter bis in die Gegenwart, angeordnet in chronologischer Reihenfolge. Der früheste Beitrag, der „Erste Merseburger Zauberspruch“ von einem oder einer unbekannten Verfasser*in, stammt aus dem 9./10. Jahrhundert; ganz am Ende der Sammlung steht das Gedicht der Lyrikerin Barbara Köhler, welches das als sexistisch in Verruf geratene Gedicht „avenidas“ des Schriftstellers Eugen Gomringer an der Fassade der Berliner Alice-Salomon-Hochschule ersetzt hat.

Die Gedichte des Bandes wurden von der Herausgeberin nach vier Kriterien, genannt Perspektiven, ausgewählt, von denen jede für etwa ein Viertel des Umfangs bestimmend wurde. Die erste Perspektive „Frauen | Lyrik und Kanon“ berücksichtigt Gedichte, die bereits einer Kanonbildung unterlagen, die zweite Perspektive „Frauen | Lyrik und Literaturgeschichte“ enthält Gedichte von Frauen, die typisch für eine bestimmte literarische Epoche sind, das dritte Viertel mit dem Titel „Frauen | Lyrik und Emanzipation“ widmet sich Texten, die „mehr oder weniger kämpferisch“ die Realität von Frauen abbilden, und die vierte Perspektive „Frauen | Lyrik und weibliche Stimmen“ umfasst Texte, die ein weibliches Ich bzw. eine weibliche Sicht der Dinge zu Wort kommen lassen. Die letzte genannte Perspektive ist dabei offen für Texte männlicher Autoren.

Erstaunlich an der Anthologie „Frauen | Lyrik“ ist die Vielfalt der darin versammelten Werke, die allein schon durch die vier verschiedenen Perspektiven erkennbar wird. Man findet bekannte Namen wie Nelly Sachs, Else-Lasker Schüler, Marie Luise Kaschnitz, Hilde Domin, Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, um nur einige aus dem 20. Jahrhundert zu nennen; zugleich stößt die interessierte Leser*innenschaft aber auch auf Texte von weniger bekannten Lyrikerinnen und Lyrikern. Die Anthologie „Frauen | Lyrik“ eignet sich daher hervorragend, wenn man neue Autorinnen und Autoren entdecken möchte. Die Lyriker erwähne ich deshalb, weil dafür, dass die Anthologie die Frauen im Titel trägt, überraschend viele Texte von Männern stammen.

Dies hat auch mit theoretischen Überlegungen der Herausgeberin zum Thema Geschlechterordnung und -diskurs zu tun: Die Anthologie soll nämlich, wie es im Nachwort explizit heißt, ausdrücklich die Vorstellung einer starren Zweigeschlechtlichkeit, einer heteronormativen Gesellschaft und stereotyper Geschlechterrollen nicht noch weiter verfestigen. Stattdessen soll die Lyrik des Bandes zu einer dynamischeren und vielfältigeren Weltsicht beitragen, in der die Normen der Gesellschaft hinterfragt werden.

Die Anthologie möchte also einen emanzipatorischen Auftrag erfüllen, egal ob man diesen nun als feministisch oder queer näher definiert. Auch intersektionale Standpunkte, also die Verknüpfung verschiedener emanzipatorischer Positionen wie Geschlecht, Herkunft, Alter und gesellschaftlicher Status, wurden berücksichtigt.

Ein Gedicht, welches beispielhaft die Geschlechternormen dekonstruiert, ist „Baby“ von Nora Gomringer:

Das Baby erhält einen Namen,
wenn es eindeutig blau oder rosa geworden ist.
(…)
die vollen neun Monate Ungewissheit:
Fisch oder Vogel. Es ist immer
ein Ding der Unmöglichkeit.

Baby

In diesem Text wird die in der Schwangerschaft sich aufdrängende Frage, das Geschlecht des Kindes eindeutig zu erfahren, abgebildet, die in der Wahl der Farbe Rosa für ein Mädchen und der Farbe Blau für einen Jungen ihren Höhepunkt findet.

Einen Vorwurf, welchen man der Anthologie von Dr. Anna Bers machen kann und welcher bereits im Nachwort durch Bers selbst vorweggenommen wurde, ist die Aufnahme von einigen objektiv schlechteren Gedichten in die Sammlung. Dadurch kommt man als Leser*in in die Verlegenheit, dass man manche der über 500 Gedichte schlicht übergehen oder weniger intensiv berücksichtigen wird, wenn einem auffällt, dass es sich um eines der qualitativ weniger hochwertigen Gedichte handelt.

Bisweilen haben auch diese Gedichte ihren Reiz, werden sie doch sonst von der Literaturgeschichte und der Kanonbildung meist übergangen. Und tatsächlich zielte die Herausgeberin, wie sie im Nachwort erklärt, darauf ab, die Wertungsmechanismen der Literaturgeschichte zu unterlaufen, indem sie bewusst solche Texte auswählte, die „typisch für ihre Zeit und daher häufig keine herausragenden, außer-orderntlichen Exemplare der jeweiligen historischen Ästhetik sind“.

Insgesamt sollte man sich die Anthologie „Frauen | Lyrik“ durch diese Kritik allerdings nicht schlechtreden lassen. Es handelt sich um ein monumentales beinahe 900-seitiges Werk, das seinen Beitrag zur Akzentverschiebung auf die Lyrik von und über Frauen in der deutschen Literaturlandschaft leisten kann und hoffentlich auch wird. Die Mehrzahl der Gedichte, egal ob von Musikerinnen, Dichterinnen oder Dichtern, ist lesens- und beachtenswert. Die Sammlung wurde im Übrigen im Auftrag der Wüstenrot Stiftung herausgegeben.

Eine klare Leseempfehlung besonders für all diejenigen, die sich für Lyrik, Frauenthemen und Feminismus interessieren. Durch die vielfältige Auswahl der Anthologie kann eigentlich aber jeder geneigte Lyrikleser profitieren und wird sicherlich noch so manch neuen Impuls bekommen!

Bewertung: 5/5

Bibliographische Angaben:
Herausgeberin: Anna Bers
Titel: Frauen | Lyrik. Gedichte in deutscher Sprache
Verlag: Reclam Verlag
Erscheinungsdatum: 25.09.2020
Seitenzahl: 879 Seiten
ISBN: 9783150113059
Kaufpreis: 28 €

Weitere Rezensionen:
Deutschlandfunk Kultur

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