2020 feiern wir den 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven. In diesem Beethoven-Jahr sind nicht nur zahlreiche Sondersendungen zu dem Ausnahmekomponisten über den Äther gegangen, sondern auch einige Graphic Novels erschienen, die sich mit seiner Person befassen. Wir stellen „Beethoven: Unsterbliches Genie“ (Carlsen, 2020) von Peer Meter und Rem Broo und „Goldjunge: Beethovens Jugendjahre“ (avant-verlag, 2020) von Mikael Ross vor.
Die beiden Werke sind allein schon deshalb sehr verschieden, weil sich beide einem anderen Zeitraum in Beethovens Leben widmen: Während „Goldjunge: Beethovens Jugendjahre“ sich, wie der Titel bereits sagt, Beethovens Kindheit, Jugend und ersten Jahren als Musiker in Wien zuwendet, wohnt man in „Beethoven: Unsterbliches Genie“ dem Tod des Komponisten bei und erfährt post mortem interessante Geschichten und Anekdoten aus seinem Leben.
Camille Jourdy, 1970 in Chenôve, Frawiderstännkreich geboren, ist die Autorin der Graphic Novel „Rosalie Blum“ (Reprodukt, 2012), für deren abschließendes Kapitel sie 2010 auf dem Comicfestival in Angoulême ausgezeichnet wurde. Ihre neue Graphic Novel entführt uns in eine Welt der Wunder, Bizarrerien und Fabelwesen, in der ein tyrannischer Kater über die unterdrückten Untertanen regiert.
Ein wenig mutet „Die Vunderwollen“ wie eine moderne Umsetzung von Alice im Wunderland als Graphic Novel an. Denn los geht es damit, dass ein kleines Mädchen namens Jo sich beim Campingurlaub mit der Familie in den Wald davonstiehlt und dabei auf zwei Miniaturwesen stößt, die eine Krone tragen und auf winzigen Pferden reiten. Die beiden wollen sie zunächst abwimmeln, doch Jo bleibt ihnen hartnäckig auf den Fersen. Sie folgt ihnen durch einen dunklen Tunnel, der auf die Welt führt, wo die Fabelwesen hausen. Wer denkt bei dieser Geschichte nicht an das sprechende weiße Kaninchen, dem Alice durch einen Kaninchenbau folgt, woraufhin sie in ein Loch fällt und zum Eingang des Wunderlands gelangt?
„Der Tod in Venedig“ von Thomas Mann ist eine klassische Novelle, um die man nicht umhinkommt, wenn man sich mit deutscher Literatur beschäftigt. Susanne Kuhlendahl hat die Geschichte um den Schriftsteller Gustav von Aschenbach und den von ihm geliebten Tadzio als Graphic Novel umgesetzt.
„Der Tod in Venedig“ erschien erstmals 1911 als Vorzugsausgabe, dann in der Literaturzeitschrift „Die Neue Rundschau“ und schließlich 1913 beim Fischer Verlag. Wie ein klassisches Drama ist die Novelle in fünf Akte gegliedert. Die Geschichte handelt von dem berühmten 50-jährigen Schriftsteller Gustav Aschenbach, der sein ganzes Leben auf Leistung ausgerichtet hat. Bereits als Kind hat er geschrieben, hatte keine Freunde, zeichnete sich sein Leben lang durch ungemeine Selbstbeherrschung und Disziplin aus. Für sein Werk „Friedrich“ über Friedrich von Preußen erhält er vom Fürsten den Adelstitel und darf sich fortan Gustav von Aschenbach nennen, worauf er wie auf seine übrigen Lebensleistungen sehr stolz ist.
Er lebt verwitwet in München, wo er eines Tages einen Spaziergang im Englischen Garten macht, der ihn bis zum Nordfriedhof führt. An der Aussegnungshalle steht ein fremder Mann in Reisekleidung und mit Basthut, der Aschenbach provokant anblickt. Der Protagonist wendet sich ab – und erlebt daraufhin „eine seltsame Ausweitung seines Inneren“, die sich zu einer Reiselust steigert. Von Aschenbach beschließt zu verreisen.
Shinsuke Yoshitake hat mit „Die Buchhandlung der Wünsche“ eine Graphic Novel für „alle, denen Bücher die Welt bedeuten“, vorgelegt, ein Buch für Bücherfreunde, Büchernarren und Bibliophile. Denn er nimmt uns in diesem Comic mit in eine Buchhandlung, in der man alle möglichen Bücher über Bücher kaufen kann. Inhaber der Buchhandlung der Wünsche ist ein sympathischer Buchhändler mittleren Alters mit Halbglatze und Schnurrbart, der seine Kundinnen und Kunden freundlich bedient.
Wenn im Laufe des Buches immer wieder kleine Szenen inszeniert werden, bei denen Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts – vom Kind über den Geschäftsmann bis zur älteren Dame oder zum älteren Herrn – in den Laden kommen, um nach Büchern zu bestimmten Themen zu fragen, antwortet der Buchhändler jedes Mal: „Und ob! Die haben wir!“ und legt sofort eine Auswahl von einigen Büchern auf den Ladentisch. Die Buchhandlung der Wünsche scheint also keine Wünsche offen zu lassen.
James Sturm, 1965 in New York geboren, hat mit „Ausnahmezustand“ (im Original: „Off Season“) eine Graphic Novel über die persönliche Seite des Wahljahres 2016 in den USA vorgelegt. Der Comic folgt dem Schicksal des Protagonisten Mark, der gerade eine heftige private Krise durchlebt – analog zu der Krise des Landes, welches dabei ist, Donald Trump zu seinem Präsidenten zu machen.
Der Graphic Novel „Der Umfall“ wurde 2020 mit dem Max-und-Moritz-Preis des Erlanger Comic-Salons ausgezeichnet. Mikael Ross hat für den Comic zwei Jahre vor Ort in dem inklusiven Dorf Neuerkerode in Niedersachsen recherchiert, ehe er zur Feder griff. Genau diesem Dorf nähert sich Ross in seiner Graphic Novel auf einfühlsame Weise an, indem er den Alltag der Dorfbewohnerinnen und -bewohner mit Beeinträchtigung in Episoden darstellt, die mal komisch, mal tragisch, mal skurril sind. Die also die ganze Breite des Lebens abbilden.
Im Zentrum des Comic-Bandes steht der Protagonist Noël, der, wie sein Name vermuten lässt, an Weihnachten Geburtstag hat. Eigentlich kommt der junge Mann mit einer geistigen Behinderung aus Berlin. Doch als seine Mutter, liebevoll „Mumsie“ genannt, überraschend einen Schlaganfall hat („Schlag“ oder „Umfall“ genannt) und ins Koma („Koooma“) versetzt werden muss, wird ihm ein Vormund – der „Mann mit Bart“ – zugeteilt, welcher ihn in das Dorf Neuerkerode in Niedersachsen begleitet.
„Es geht um das Buch!“, heißt es, wenn einmal im Jahr der Katalog der Kurt-Wolff-Stiftung erscheint. Darin präsentieren 65 spannende unabhängige Verlage sich selbst und ihre Programme. Vor Kurzem ist der neue Katalog für das Jahr 2020/21 veröffentlicht worden. Im folgenden Beitrag werde ich euch aus diesem Anlass meine persönliche Auswahl der interessantesten Romane aus unabhängigen Verlagen vorstellen. Die Romane habe ich aus dem Katalog der Kurt-Wolff-Stiftung ausgewählt.
Eine kleine Vorwarnung: Der Artikel könnte etwas länger werden, die Liste ebenfalls. Das liegt aber daran, dass er euch ausreichend Stoff für neues Lesefutter bieten soll und genau denjenigen Büchern Raum geben soll, die in den Buchhandlungen nicht an vorderster Stelle präsentiert werden und die auch im Internet und Feuilleton weniger Aufmerksamkeit erhalten. Jetzt geht es aber los mit der Bücherliste. Viel Freude damit!
David B.: Die heilige Krankheit: Geister. Edition Moderne.
David B. schreibt in „Die heilige Krankheit: Geister“ über die Epilepsie-Erkrankung seines Bruders. Die Geschichte handelt von der Kindheit in den 60er und 70er Jahren, in der die Erkrankung des Bruders im Zentrum des Geschehens stand.
Die Familie probiert verschiedene Heilmethoden aus, um den Sohn von seinen Anfällen zu erlösen, die ihn im sozialen Umfeld seiner Heimatstadt stigmatisieren: Sie gehen zunächst zu einem Facharzt, der Medikamente verschreibt; anschließend testen sie die sogenannte makrobiotische Ernährung und Lebensweise, die von einem Guru gelehrt wird und in Kommunen praktiziert wird. In den Ferien fahren sie in Kommunen, wo sie nach den Regeln des makrobiotischen Lebensstils essen und leben. Auch zu Scharlatanen und Sekten zieht es die Familie in der Hoffnung, dort die Lösung für das Leiden des Sohnes zu finden.
Für David B. wird die Suche nach der Heilung des Bruders zu einem Albtraum, den er in seinem autobiographischen Graphic Novel Jahre später verarbeitet und überwindet. Darin wird die Epilepsie als einer von vielen Dämonen dargestellt, die die Welt der Kinder und der Familie immer wieder heimsuchen. Die Welt von David B. ist bevölkert von verschiedenen Dämonen, die zum Beispiel auch beim Tod des Großvaters auftauchen. Anlässlich des Todes des Großvaters macht die Geschichte einen Exkurs in das Leben der Großeltern, sodass hier eine wahre Familiengeschichte vorliegt.
Mir hat der Graphic Novel sehr gut gefallen, vor allem weil man merkt, dass hier eine sehr persönliche Geschichte verarbeitet wurde. Der Autor hat seine eigene Geschichte durch das Zeichnen und Schreiben überwunden. Es scheint fast so, als hätte das Zeichnen für ihn eine therapeutische Wirkung. So zeichnet er im Graphic Novel immer wieder Kriegs- und Kampfszenen, in denen er seiner inneren Wut freien Lauf lassen kann. Insgesamt handelt es sich um eine interessante Familiengeschichte rund um die fünfköpfige Familie von David B. aus den Eltern, seiner Schwester, seinem Bruder und ihm.
Ken Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt. Graphic Novel. Übersetzt von Hanns Zischler. München: dtv 2019.
Ken Krimsteins Graphic Biography über Hannah Arendt wurde dieses Jahr hoch gelobt: Ein Grund für mich, die Graphic Novel selbst zu lesen und mir ein eigenes Urteil zu bilden.
Krimstein fasste dieses Projekt erstmals ins Auge, weil er fasziniert von Hannah Arendts Formulierungen wie „Banalität des Bösen“ oder dem Titel „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ war. Er wollte mehr über die Person, das Leben und das Werk Hannah Arendts entdecken. Eigentlich ist Krimstein Cartoonist (u. a. für den „New Yorker“, „Punch“ und das „Wall Street Journal“). Außerdem unterrichtet er an der Universität und ist Kreativdirektor einer Werbeagentur.
Doch nun zum Buch: In drei Teilen beschreibt Krimstein die „drei Leben“ von Hannah Arendt (1906-1975). Wir erleben als Leser einen Werdegang mit, der stark von der Flucht geprägt ist, aber auch vom Denken und der Auseinandersetzung mit bedeutenden Intellektuellen, Künstlern, Avantgardisten ihrer Zeit. Hannah Arendt war eine außergewöhnliche Frau, die bereits in ihrer Jugend Kant las. Daraufhin studierte sie in Marburg bei Martin Heidegger mit einer Reihe anderer wichtiger Denker wie Herbert Marcuse, Leo Strauss und Hans Jonas. Die Affäre zwischen Heidegger und Hannah Arendt wird in der Graphic Novel recht ausführlich thematisiert.
Hannahs erste Flucht führt sie nach Berlin. Doch 1933 wird Arendt von den Nazis ins Exil gezwungen und geht nach Paris. Auch dort kann sie aber nicht dauerhaft bleiben. Nachdem sie vom nationalsozialistischen Regime ausgebürgert worden war, folgt eine Zeit der Staatenlosigkeit. Sie geht sie über Portugal in die USA. 1951 erhält sie die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. In den USA geht sie einer akademischen, journalistischen und schriftstellerischen Tätigkeit nach.
Für Hannah Arendt ist leben und denken ein und dasselbe. Sie kann sich ein Leben ohne Denken nicht vorstellen. So entstehen ihre Bücher über die „Banalität des Bösen“, die „Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft“, die „Vita activa“ und Konzepte wie die „Pluralität“, die sie prägte. Demnach besteht zwischen den Menschen eine potentielle Gleichheit und Freiheit im politischen Raum. Wichtig sei es, die Perspektive des anderen einzunehmen. Das Konzept der Pluralität scheint heute angesichts der Polarisierung der Gesellschaft noch aktuell. Arendt vertrat außerdem eher Rätesysteme und Formen direkter Demokratie als repräsentative Demokratien.
Arendts Stellungnahmen zu aktuellen politischen Ereignissen waren häufig umstritten: Sie galten den einen als zu jüdisch, den anderen als nicht jüdisch genug. So wandten sich viele von ihr ab, als sie sich zum Eichmann-Prozess in Jerusalem öffentlich äußerte.
Der Stil der Graphic Novel ist gezeichnet wie ein Cartoon, leicht, locker, übersichtlich, nie schwer oder grausam. Bis auf einige grüne Farbtupfer auf der Kleidung von Hannah Arendt sind die Zeichnungen in schwarz-weiß gehalten. Das Werk liest sich rasch, es ist eine Tour-de-Force durch den interessanten Werdegang einer der wichtigsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Naturgemäß wurde dem Denken, das sich zeichnerisch nicht so leicht darstellen lässt, dort etwas weniger Raum eingeräumt als den Lebensereignissen. Sehr deutlich geht aus der Graphic Novel jedoch hervor, welche Denkerinnen und Denker Hannah Arendt beeinflusst haben, wie etwa Platon, Aristoteles, Kant, Heidegger und Jaspers.
Insgesamt hat mir die Graphic Novel aber sehr gut gefallen. Wie Fluchterfahrungen ein Leben prägen, dieses Thema ist heute aktueller denn je zuvor. Natürlich war Hannah Arendt privilegiert und eine Intellektuelle. Und doch musste sie, wie die Graphic Novel zeigt, auf ihrem Lebensweg Hindernisse überwinden, die mit ihrer Herkunft zusammenhingen, beispielsweise ihrem Judentum, das ihr in einem antisemitischen Umfeld zum Nachteil gereichte.
Erst nach der Emigration in den USA konnte sie sich richtig frei entfalten. Und selbst dort ließ sie ihre Vergangenheit, das, was sie zuvor erlebt hatte, ihre eigene Geschichte nie ganz los. Die Graphic Biography Kimsteins schafft es, darzulegen, wie die eigene Geschichte den Lebensweg und das Denken eines Menschen beeinflusst. Er konzentriert sich auf die wichtigsten Ereignisse und vereinfacht doch nicht zu sehr.
Die Hannah Arendt dieser Graphic Novel ist eine mutige und hochintelligente Denkerin, die es trotz aller Hindernisse wagte, ihren eigenen Weg zu gehen und damit am Ende Erfolg hatte.