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„Der Tod in Venedig“ nach Thomas Mann von Susanne Kuhlendahl

„Der Tod in Venedig“ von Thomas Mann ist eine klassische Novelle, um die man nicht umhinkommt, wenn man sich mit deutscher Literatur beschäftigt. Susanne Kuhlendahl hat die Geschichte um den Schriftsteller Gustav von Aschenbach und den von ihm geliebten Tadzio als Graphic Novel umgesetzt.

„Der Tod in Venedig“ erschien erstmals 1911 als Vorzugsausgabe, dann in der Literaturzeitschrift „Die Neue Rundschau“ und schließlich 1913 beim Fischer Verlag. Wie ein klassisches Drama ist die Novelle in fünf Akte gegliedert. Die Geschichte handelt von dem berühmten 50-jährigen Schriftsteller Gustav Aschenbach, der sein ganzes Leben auf Leistung ausgerichtet hat. Bereits als Kind hat er geschrieben, hatte keine Freunde, zeichnete sich sein Leben lang durch ungemeine Selbstbeherrschung und Disziplin aus. Für sein Werk „Friedrich“ über Friedrich von Preußen erhält er vom Fürsten den Adelstitel und darf sich fortan Gustav von Aschenbach nennen, worauf er wie auf seine übrigen Lebensleistungen sehr stolz ist.

Er lebt verwitwet in München, wo er eines Tages einen Spaziergang im Englischen Garten macht, der ihn bis zum Nordfriedhof führt. An der Aussegnungshalle steht ein fremder Mann in Reisekleidung und mit Basthut, der Aschenbach provokant anblickt. Der Protagonist wendet sich ab – und erlebt daraufhin „eine seltsame Ausweitung seines Inneren“, die sich zu einer Reiselust steigert. Von Aschenbach beschließt zu verreisen.

Zunächst reist von Aschenbach an die Adria nach Pula, doch der Strand gefällt ihm nicht und es regnet. Er folgt einer plötzlichen Eingebung und reist stattdessen mit dem nächsten Schiff nach Venedig weiter. Ein schmeichelnder Zahlmeister lobt ihn für sein Reiseziel. Auf dem Schiff angekommen, beobachtet er eine Gruppe junger Männer. Darunter befindet sich auch ein älterer Herr, der sich wie ein Jüngling kleidet, schminkt und gibt, was bei von Aschenbach Entsetzen auslöst.

Copyright: Knesebeck Verlag/Susanne Kuhlendahl
Copyright: Knesebeck Verlag/Susanne Kuhlendahl

In Venedig möchte Aschenbach mit einer Gondel zur Vaporetto-Dampferstation befördert werden, doch der Gondoliere fährt ihn eigenmächtig zum Lido. Als Aschenbach kurz Geld holt, um den Gondelfahrer zu bezahlen, ist dieser bei seiner Rückkehr bereits verschwunden, da er keine Konzession besitzt. Zunächst gibt sich der Künstler im edlen Hotel des Bains („Bäderhotel“), in welchem er absteigt, und der Umgebung dem Alleinsein hin. Er macht einsame Spaziergänge durch Alleen und Parks, blickt aufs Meer, lässt sich im Hotel bedienen und widmet sich seinen Gedanken:

Die Beobachtungen und Erlebnisse des Einsam-Stummen sind zugleich verschwommener und eindringlicher als die der Geselligen. Seine Gedanken schwer, wunderlicher. Die Einsamkeit lässt das Originale reifen, das gewagt und befremdend Schöne. Das Gedicht. Die Einsamkeit lässt aber auch das Verkehrte reifen, das Maßlose, das Absurde und Unerlaubte.

Beim Abendessen im Hotel fällt ihm erstmals eine Gruppe polnischer Gäste auf, darunter ein schöner Jüngling „von vielleicht vierzehn Jahren“, der sich ihm einprägt und der ihm als „vollkommen schön“ erscheint. Susanne Kuhlendahl deutet die Vollkommenheit des Jungen durch Gegenüberstellungen mit antiken Statuen und Skulpturen an, die für das Kunstschöne schlechthin stehen.

Am Strand beobachtet der Schriftsteller den jungen Knaben voller Bewunderung. Er verbindet seinen Anblick mit Gedanken über die Schönheit an sich, die Geburt der Götter und Sokrates‘ Warnung vor dem Jungen und Schönen, die er allerdings in den Wind schlägt:

Weißt du nicht, dass dieses Geschöpf, genannt „jung und schön“, gefährlicher ist als die Skorpione? Weil letztere nur durch Berührung, ersteres aber sogar aus der Ferne dir etwas injiziert, das dich in Raserei bringt!

Sokrates

Durch die Rufe der polnischen Familie erfährt Aschenbach, dass der Junge Tadzio heißt und sein Rufname Tadziu lauten muss.

Das schwüle Wetter, das über der Stadt liegt, eine Mischung aus Seeluft und Scirocco, bekommen Aschenbach nicht gut. Schon einmal musste er wegen des Wetters aus Venedig abreisen. Er entscheidet, dass er wegen der ihm unerträglichen Schwüle die Weiterreise antreten muss.

Am nächsten Morgen steht der Wagen bereit, auch das Gepäck ist fertig gepackt. Aschenbach möchte nach Triest reisen. Doch im letzten Moment zögert er: Sein Herz hängt noch immer an der Stadt Venedig, seinem Aufenthalt dort und besonders an Tadzio. Kurz vor der Abfahrt stellt sich heraus, dass das Gepäck nach Como aufgegeben wurde statt nach Trier. Daher muss Aschenbach notgedrungen noch in Venedig bleiben, um auf sein Gepäck zu warten.

Die Zeit in Venedig nutzt Aschenbach, um Tadzio zu beobachten. Der sonst nüchterne Schriftsteller, Abkomme preußischer Beamter und Soldaten, gibt sich ganz seinen Gefühlen hin. Er beobachtet den Knaben in der Stadt, im Hotel, beim Spielen am Strand, beim Baden im Meer, ohne ihn jedoch je anzusprechen:

Bald kannte der Betrachtende jede Linie, jede Pose dieses göttlichen Körpers und fand der Bewunderung, der zarten Sinnenlust kein Ende.

Die Betrachtung des junge Knaben, die etwas erotisch Flimmerndes hat, stellt Susanne Kuhlendahl beinahe unkommentiert und wortlos dar, was die Spannung zwischen den beiden Personen noch erhöht. Aschenbach glaubt, in Tadzio „das Schöne selbst“ wahrzunehmen, „die eine und reine Vollkommenheit, die im Geiste lebt“. In seiner Bewunderung des Jungen schließt er auf Sokrates, der den jungen Phaidros über die Schönheit belehrt:

Die Schönheit, kleiner Phaidros, ist das einzige geistige Ideal aus der Sphäre des Göttlichen, das wir mit unseren Sinnen erfahren können. Wer verdorben ist und der Ehrfurcht nicht fähig, will sich mit ihr auf tierische Art vermischen.

Sokrates

Durch eine gelungene Bildkomposition, die die Szene zwischen Sokrates und Phaidros im antiken Griechenland, das Spielen des jungen Knaben Tadzio und das Schreiben des gealterten Schriftstellers nebeneinander gestellt zeigt, stellt Kuhlendahl graphisch dar, wie sich Aschenbach in eine geistige und mystische Welt flüchtet, in der er den Eros erkennen möchte. Die theoretischen Gedanken zum Eros und zur Schönheit werden begleitet von Darstellung des jungen Tadzio, der aus verschiedenen Winkeln, wie eine lebendig gewordenen griechische Skulptur, inszeniert wird.

Am Ende reichen ein Blick und ein Lächeln des Jungen, die Aschenbach eines Abends treffen, damit er sich eingesteht: „Ich liebe dich.“

Damit beginnt der letzte Akt der durchkomponierten Erzählung. Venedig wird von einer Seuche heimgesucht, die die Einheimischen nur „das Übel“ nennen. Viele Gäste sind abgereist, wie ein Friseur Aschenbach gesteht, doch Genaueres will er nicht erwähnen. Auf dem Markusplatz fällt dem Schriftsteller ein komischer Geruch auf, Aushänge warnen vor Erkrankungen des Verdauungssystems und dem Verzehr von Muscheln und rohem Obst. Die Stadt wird desinfiziert.

Währenddessen ist Aschenbach zunehmend von seiner Hingabe zu Tadzio eingenommen, sein früher nüchternes und diszipliniertes Wesen verliert sich.

[S]eine Schritte folgten den Weisungen des Dämons, dessen Lust es ist, des Menschen Vernunft und Würde unter seine Füße zu treten.

Nun wird erkennbar, weshalb Thomas Mann die Novelle „Der Tod in Venedig“ resümierend als „Tragödie einer Entwürdigung“ bezeichnet hat. Denn Aschenbachs gesamtes Streben richtet sich auf den geliebten Tadzio, den er nunmehr mit seinen Gedanken und durch seine Handlungen verfolgt. Aschenbach versucht, seine Würde zumindest vor sich selbst zu bewahren, indem er sein pädophiles Begehren mit dem Eros rechtfertigt, der auch bei den Griechen in Ehren gestanden habe, Kriegshelden unterworfen habe und diese zu mutigen Taten motiviert habe. Hier wird die geistige Natur des Künstlers noch einmal deutlich.

Währenddessen wütet weiterhin die Seuche in Venedig. Die Einheimischen, welche Aschenbach um Auskunft bittet, beschwichtigen lediglich oder wiegeln ab, dass es keinerlei Grund zu Besorgnis gebe. Die Desinfektion Venedigs sei nur eine vorbeugende Maßnahme, so lautet die amtliche Erklärung. Doch ein Herr in einem Reisebüro eröffnet Aschenbach schließlich, dass die Cholera über das Meer aus Indien nach Venedig gelangt sei. Er rät zur baldigen Abreise, da wahrscheinlich bald eine Reisesperre verhängt werde.

Um die Cholera-Seuche wissend, möchte Aschenbach der polnischen Familie dazu raten, möglichst schnell abzureisen. Doch er entscheidet sich dagegen, auch um Tadzio nicht zu verlieren: „Man soll schweigen. Ich werde schweige.“ Dies unterstreicht erneut, dass die Beziehung Aschenbachs zu Tadzios Familie einseitiger Natur ist: Es werden zwar Blicke ausgetauscht, doch es kommt zu keiner Konversation zwischen den beiden Seiten.

Die Entwürdigung schreitet dadurch voran, dass Aschenbach den Gegenstand seiner Begierde zuletzt völlig ungehemmt beobachtet, ohne sich darum zu sorgen, ob seine Blicke den Umstehenden auffallen. Und wie jeder Verliebte möchte er gefallen. Die Selbstachtung verliert Aschenbach endgültig, als er sich vom Friseur seine Haare färben und das Gesicht schminken lässt, um an Jugendlichkeit zu gewinnen. Er ist nun auf der Stufe des geckenhaften Alten angekommen, welchen er während der Schifffahrt nach Venedig noch mit Abscheu betrachtet hatte.

Weil er unterwegs in der Stadt, nach Tadzio forschend, unerträglichen Durst verspürt, isst er eine vergammelte Erdbeere. Danach wird Aschenbach schlecht. Sein Kopf brennt, sein Körper ist schweißgebadet, er zittert. In dieser Verfassung denkt Aschenbach ein weiteres Mal über die Vorzüge des Eros nach, die ihn zuletzt dazu führen, mit Tadzio an den Abgrund zu treten, was Kuhlendahl sehr plastisch darstellt.

Bei der Rückkehr ins Hotel erfährt der Schriftsteller, dass die polnische Familie nach dem Mittagessen abreisen wird. Im Strandstuhl beobachtet er den geliebten Tadzio ein letztes Mal. Er versucht ihn mit seiner Hand zu greifen. Daraufhin weist Tadzio ihm mit seinem Arm den Weg aufs Meer „ins Verheißungsvoll-Ungeheure“. Aschenbach sinkt leblos in seinen Strandstuhl. Noch am selben Tag stirbt der Schriftsteller an der Cholera und die Welt erfährt von seinem Tod.

Die Graphic Novel von Susanne Kuhlendahl setzt das literarische Vorbild in stilvollen, ästhetischen und ausgewogenen Aquarellzeichnungen um, die der klassischen und formalen Ausgewogenheit von „Der Tod in Venedig“ gerecht werden. Die tadellose Ästhetik der Zeichnungen stimmt dort mit den ästhetischen Überlegungen des Künstlers Aschenbach überein, wo er sich über den Eros, die Schönheit und das Göttliche Gedanken macht. Die Schönheit des jungen Tadzio wird wie eine antike Skulptur – oft ohne jeglichen Kommentar – dargestellt, bei der man jedes Körperteil betrachten kann, ohne einen Makel zu entdecken.

Doch auch das Groteske, das Absurde, das Skurrile und Bizarre beherrscht Kuhlendahl, wenn etwa ein die geckenhaften Züge des Alten auf dem Schiff in Szene gesetzt werden oder der fremde Mann auf dem Friedhof oder ein dionysischer Chor ihren Auftritt haben. Im wahrsten Sinne des Wortes wird dann dick aufgetragen: Dicke Striche, bunte und dunkle Farbe, krasse Kontraste schaffen ein Zerrbild der Realität.

Wer die klassische Novelle „Der Tod in Venedig“ neu entdecken möchte, liegt mit Susanne Kuhlendahls Umsetzung als Graphic Novel goldrichtig. Denn diese ist sowohl inhaltlich als auch künstlerisch und ästhetisch gelungen.

Bewertung: 5/5

Bibliographische Angaben:
Zeichnerin: Susanne Kuhlendahl
Autor: Thomas Mann
Titel: Der Tod in Venedig nach Thomas Mann
Verlag: Knesebeck
Erscheinungsdatum: 18.09.2019
Seitenzahl: 96 Seiten
ISBN: 9783957282682
Kaufpreis: 22 €

Weitere Rezensionen:
Literaturblog Sabine Ibing

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