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„Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft“ von Étienne de la Boétie

Étienne de la Boétie war der beste Freund des Philosophen und Essayisten Michel de Montaigne. Letzterer wurde durch seine „Essais“ auch außerhalb Frankreichs berühmt, doch weniger bekannt ist das Werk von de la Boétie, der in den nur 32 Jahren seines kurzen Lebens Sonette, aber auch einen Essay mit dem Titel „Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft“ (frz. „Discours de la servitude volontaire“) verfasste. Diesem „Discours“ wollen wir uns heute widmen.

La Boétie wurde 1530 in Sarlat (heute: Region Nouvelle-Aquitaine) geboren und wuchs in einer Beamtenfamilie, in einem aufgeklärten Umfeld von kultivierten Bürgern auf. Sein Vater starb früh, sodass sein Onkel die Erziehung übernahm. 1548 erlebte er die Proteste gegen eine Salzsteuer mit, die von den königlichen Truppen brutal niedergeschlagen wurden, was ihn prägte. Er studierte die antiken Autoren und übersetzte Plutarch und Xenophon sowie Vergil und Ariost. Zudem schrieb er lateinische und griechische Verse und 29 französische Liebessonette.

Sein bekanntestes Werk verfasste er allerdings während seines Jurastudiums an der Universität von Orléans. Auch unter dem Eindruck der gewaltsam niedergeschlagenen Revolten gegen eine neue Steuer entstand der anti-absolutistische „Discours de la servitude volontaire“, der zunächst nur handschriftlich kursierte. Es handelt sich um sein erstes und einziges Werk, einen Essay gegen die Tyrannenherrschaft und für die Freiheit der Vielen. Aus diesem Grund gab man dem Werk auch den Untertitel „Contr’un“, „Gegen den Einen“.

Die Editionsgeschichte des Essays von La Boétie ist interessant, und davon soll deshalb hier berichtet werden: Zunächst existierte der „Discours“ nur handschriftlich, wie gesagt. Montaigne wurde durch die Abhandlung auf La Boétie aufmerksam, der ab 1557 zu einem seiner engsten Freunde wurde, ehe der Parlamentsrat mit 33 Jahren an einer Seuche starb. Da der inzwischen etwas gesetzte La Boétie von seinen leidenschaftlichen jugendlichen Haltungen Abstand genommen hatte und vor seinem Tod Loyalität zum Regime praktiziert hatte, entschied sich Montaigne, der dessen Schriften testamentarisch verwaltete, gegen eine posthume Veröffentlichung des „Discours“.

Ein weiterer Grund gegen die Veröffentlichung war, dass die hugenottische Seite im Glaubenskrieg inzwischen dazu übergegangen war, die Schrift La Boéties für ihre propagandistischen Zwecke zu nutzen, was Montaigne nicht unterstützen wollte. Erst 1574, ca. 10 Jahre nach La Boéties Tod, wurde die Abhandlung erstmals gedruckt, als Teil einer protestantischen Kampfschrift. 1577 erschien der „Discours“ erneut im Rahmen des propagandistischen Werkes „Mémoires des états de France sous Charles IX“.

Auch zu späteren Zeiten wurde das Werk La Boéties immer wieder von Oppositionellen in Beschlag genommen, um für eine verschieden definierte Form der Freiheit oder Befreiung zu kämpfen, z. B. zur Zeit der Aufklärung, aber auch durch Sozialisten und Anarchisten. In der wissenschaftlichen Literatur wurde diskutiert, ob das Werk überhaupt nicht von La Boétie stamme, sondern eigentlich von Montaigne verfasst wurde (Armaingaud 1909), was aber von anderen Forschern wie Villey (1906) auch mit guten Argumenten wieder zurückgewiesen wurde.

Insgesamt gibt es mehrere Theorien zur Interpretation des „Contr’un“, darunter z. B. dass er sich gegen Heinrich III. oder dessen Vorgänger Karl VI. richte (Delaruelle 1910). Auch als Streitschrift gegen Machiavellis „Der Fürst“ (it. „Il principe“) wurde La Boéties dünner Essay interpretiert. Die letzte Interpretation ist eher unwahrscheinlich, und tatsächlich zeigt sich La Boétie in seiner Abhandlung dem herrschenden französischen König ergeben, um nicht in politische Schwierigkeiten zu geraten. Er umfährt auf geschickte Weise die wirklich gefährlichen Gewässer, indem er seine Streitschrift gegen die Tyrannenherrschaft allgemein hält und sich auf antike exempla, d. h. Beispiele, beruft.

Unstrittig ist jedoch, dass die „Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft“, die wir in der Übersetzung Johann Benjamin Erhards aus dem Jahr 1821 (erschienen im Limbus Verlag) vorliegen haben, mehr ist als eine rein humanistische Schrift oder eine rhetorische Übung, auch wenn sie laut Delaruelle (1910) von antiken Anspielungen durchsetzt ist; es handelt sich um einen politischen und gesellschaftlichen Essay zugunsten der Freiheit und Befreiung der Menschen, die unter dem Joch eines einzigen Tyrannen leben, ein Joch, das sie freiwillig und ohne Notwendigkeit auf sich nehmen.

Dieser Gedanke ist nicht neu, und doch war es im 16. Jahrhundert nicht üblich, wenn nicht sogar gefährlich, ihn zu äußern. Erst im 18. Jahrhundert fand die Idee mit dem Beginn und der Hochzeit der Aufklärung breitere Zustimmung und Unterstützung. Man denke nur an Kants bekannte Aussprüche „sapere aude“, „wage, vernünftig zu sein“ und „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ In gewisser Weise ist La Boétie ein früher Vorbote der Aufklärung, die er zwar noch längst nicht einläutet, die er aber schon als einzelner Kämpfer unter vielen und auf weitem Felde anklingen lässt.

La Boétie argumentiert, dass, wenn alle Untertanen eines Tyrannen aufstehen würden, dieser keine Macht mehr hätte. Zudem sei der Tyrann oft nicht der stärkste im Volk, weder auf dem Schlachtfeld noch auf dem Turnierplatz. Von allen Menschen im Volke sei er „nur allzuoft [sic] der Feigste und Weibischste unter der ganzen Nation“. Hier taucht in einem misogynen Turn der Topos von den verweichlichten bzw. verweiblichten Höflingen und Adligen auf, die in einer Art spätrömischen Dekadenz dahinleben.

Ein weiteres Argument: Man muss Freiheit nur wollen, Freiheit sei – wie in der Schlacht der alten Griechen gegen die Perser – oft die bessere Triebfeder als die Angst vor Sklaverei und Unterdrückung. Damit stellt La Boétie die beiden Pole Freiheit – Sklaverei und Selbstbestimmung – Beherrschtsein gegenüber, denen die Untertanen, die nicht länger Untertanen sein wollen, ausgeliefert sind. Laut La Boétie gibt es keine Zwischentöne, denn sein Essay ist drastisch, mutig, frech und entschlossen. Man muss sich für einen dieser Pole entscheiden und es ist klar, dass Freiheit und Selbstbestimmung die bessere Wahl darstellen.

All dem hört man auch an, dass es von einem jungen Menschen geschrieben wurde, in dem noch die Verve der Jugend glüht. Das macht das Lesen zu einem kurzweiligen und zugleich leidenschaftlichen Vergnügen. Doch angesichts der zahlreichen humanistischen Anspielungen und der Gedankengänge mit – zugegeben – sich ähnelnden Argumenten gegen den Tyrannen folgt man den Ausführungen La Boéties gern.

Eine uneingeschränkte Klassiker-Leseempfehlung! Für aufgeklärte Geister, die in ein Werk der französischen Renaissance aus dem Umfeld des großen Philosophen Montaigne eintauchen wollen…

Bewertung: ⭐⭐⭐⭐⭐ 5/5

Étienne de la Boétie: Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft. Aus dem Französischen von Johann Benjamin Erhard. Innsbruck/Wien: Limbus Verlag. 12 €.

Étienne de la Boétie: Discours de la servitude volontaire, suivie de vingt-neuf sonnets et d’une lettre de Montaigne. Paris: arléa. 9 €.


Quellen:
D’Armaingaud (1909): „Le véritable auteur du „Discours de la Servitude volontaire“ Montaigne ou La Boétie?“ RHF 16,2: 354-368.
https://www.jstor.org/stable/40519444
Delaruelle, L. (1910): „L’inspiration antique dans le „Discours de la Servitude volontaire.“ RHF 17, 1: 34-72.
https://www.jstor.org/stable/40516897
Keanne, O. Nannerl (1977): „The Radical Humanism of Étienne De La Boétie.“ Journal of the History of Ideas 18, 1: 119-130.
https://www.jstor.org/stable/2708844
von Treskow, Isabella: „La Boétie, Étienne de.“ In: H. L. Arnold (Hrsg.): KLL Online. Stuttgart: Metzler/Springer. https://doi.org/10.1007
von Treskow, Isabella: „La Boétie, Etienne de: Discours de la Servitude volontaire.“ In: H. L. Arnold (Hrsg.): KLL Online. Stuttgart: Metzler/Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05728-0_9679-1
Villey, Pierre (1906): „Le véritable auteur du „Discours de la Servitude volontaire“ Montaigne ou La Boétie?“ RHF 13, 4: 727-736.
https://www.jstor.org/stable/40519598

2 thoughts on “„Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft“ von Étienne de la Boétie

  1. Hallo Florian,
    besten Dank für die eingehende Buchvorstellung einschließlich Editionsgeschichte.
    Der Name des Autors war mir bekannt, der Text noch nicht untergekommen.
    Wiederum freue mich, wieder mal von Johann Benjamin Erhard zu hören, dem genannten Übersetzer, gebürtiger Nürnberger.
    Danke für die Empfehlung
    und freundliche Grüße
    Bernd

    1. Lieber Bernd,
      den Artikel zu verfassen, hat mir große Freude bereitet, und das merkt man vielleicht auch.
      Die Lektüre des Textes ist auf jeden Fall ein Gewinn, und der Text ist nicht sonderlich lang!
      Ich wiederum wusste nicht, dass J. B. Erhard ein Nürnberger ist, aber das macht es ja noch interessanter.
      Vielen Dank für den Hinweise.
      Freundliche Grüße
      Florian

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