Marit Heuß, 1984 in Sachsen geboren, ist Literaturwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin und lebt in Leipzig. Mit Verschlissenes Idyll hat sie ihr lyrisches Debüt vorgelegt. Das lyrische Ich in diesem Band ist permanent unstet. Es weilt nie lange an ein und demselben Ort. Auf ein Gedicht über die Stadt folgt eines über See, Landleben und auf ein Gedicht über das sächsische Beucha und Gruben im Berg folgt wenig später ein weiteres über Rom, Portugal etc.
ver: Aus dem Lyrikkabinett: „Verschlissenes Idyll“ von Marit HeußDichtung einer industrialisierten Romantik
Daher könnte es sich um einen Reisenden oder eine Reisende handeln, die nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich Grenzen überschreitet. Im Nachwort heißt es, Heuß schließe mit ihrer Lyrik an die Dichtung an die Melancholie der Romantik und an das 19. Jahrhundert an. Wir erleben bei ihr tatsächlich Reminiszenzen an die Errungenschaften dieser Epoche: die Dampfmaschine, Eisenbahnschienen, Züge, Fabriken.
Heizer fachen die Düsen an, Heizer nicht
für unterirdisches Erz, Hitze, um heiße Seen
um uns Badende zu lagern, nichts ahnen
von Gebirgen aus Uran, nichts von kühnen
Bierfahrgedichten unserer Vorfahren
wir binden den Badegästen Grubenlampen
an die Stirnen, schicken sie in Schächte,
die neu geschichteten Erdteile zu durchglühen,
schenken übermäßig Radonwasser ein,
dass ihre Venen aufleuchten,
ihre Bademonologge um die alten Kumpels […]
(aus: Kurbad)
Da sind die sächsischen Berggruben, Fabriken und Orte, die wie ein heimatlicher Grundton in diesem Lyrikband mitschwingen, von denen sich Heuß konzentrisch wegbewegt in Quasi-Suchbewegungen, in die Fremde, wo sie neue Konzepte, neue Orte, neue Ideen findet, die aber ebenfalls auf etwas Bekanntes, oft dem Reich der Fantasie, des Märchens oder der Mythologie entstammend, verweisen.
Nature Writing und Melancholie
Die Tonalität des Gedichtbandes ist kündend-melancholisch, bedeutungsschwer und sicher in der Aussage. Bei Heuß wirkt alles in einem Zentrum verankert. Sie schreibt über die ländliche Natur in einer Form von Nature Writing, wobei es sich immer um eine Form von menschlicher, auf den Menschen bezogenen Natur handelt. Sie schreibt aber auch über die fantastisch-märchenhafte Seite der von ihr besuchten Orte – von Sachsen über ein Kloster bis hin zu Rom, Portugal und der Ostsee.
Ich sah Reetdächer, jenes der Kirche von Alt Placht,
inmitten von Sandwegen, gesäumt von keltischen Linden,
uralte, entzwei gesprengte grünende Linden,
ausgehöhlte Stämme, in die ich hineinkroch,
so umgeben von hölzerner Haut, sonnenwarm die Rinde,
untrügerisch spröd, so verborgen hielt ich auch mein Leben
für möglich, Hohlbaum und Blattgefieder sagten,
dass es ohnehin schamlos wäre jegliches Weiterleben
und immer begrenzter als jenes der Linden hier in Alt Placht
(aus: Alt Placht)
Auf Reisen
Es entsteht aufgrund der Kapitelstruktur den Eindruck, dass es sich bei dem Gedichtband um ein Reisejournal handeln könnte. Auch wenn sich die Kapitel im Hinblick auf Ton und Stil weitgehend ähneln, so unterscheiden sie sich doch, was die besungenen Örtlichkeiten und Themen anbelangt, auch wenn die Titel der Kapitel wie „Stadtsternzone“ oder „Hundertlippiger Farn“ kaum Rückschluss auf den Inhalt zulassen.
Die Natur ist bei Heuß ein aktiver Teil der Handlung, ein Agens, auch wenn es sich nur um ein „verschlissenes Idyll“ handelt. Diese Eigenschaft der Natur wird besonders in „Hundertlippiger Farn“ deutlich:
Einfach überwachsen sein von Farn, faulender Farn,
Farn, tierisches, bestialisches Gewächs, […]
in dessen Wurzelgestrüpp schwarze Schnecken brüten,
Farn, der vorm Laubschuppen des Gartens sich an Mäusedreck stillt
Farn, der den Hunden der Abtritt ist, Farn, du wächst neben dem Haus,
in dem ich meine Geschichten schuf, wo mir das Gefilde
das Farns tropische Länder mimte, in die ich hineintrieb
(aus: Hundertlippiger Farn)
Es gibt keinen Ort, der nicht bezaubern und verwundern kann bei Marit Heuß, und wenn man, um die schweren Seiten zu überwinden, ins 19. Jahrhundert zurückkehren muss.
Bewertung: 4,5/5
Marit Heuß: Verschlissenes Idyll. Gedichte. Poetenladen. 19,80 Euro.
Reihe Neue Lyrik, Band 29.