Inzwischen ist der Herbst dabei, in den Winter überzugehen. Ich dachte mir, ich könnte in einer Art Rückschau auf meine letzten Lesemonate meine Lieblingstitel aus dem Herbstprogramm 2022 vorstellen, da es in letzter Zeit etwas ruhiger um meinen Blog geworden ist. Ich hoffe, dass ich Euch in Zukunft wieder in einiger Regelmäßigkeit auf meinem Blog und bei Instagram an meinen Leseeindrücken teilhaben lasse. Nun also die Revue der vergangenen Monate.
Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden.
Edgar Selge, der eigentlich Schauspieler ist und mit „Hast du uns endlich gefunden“ sein literarisches Debüt vorlegt, schreibt in diesem autobiographisch inspirierten Roman die Geschichte seiner Kindheit auf, die er stellenweise geschickt mit der Gegenwart verwebt.
Er ist als Sohn eines Gefängnisdirektors in den 60er Jahren aufgewachsen, die Familie lebte ein bürgerliches Leben, machte viel Musik. Selge blickt zurück auf die Enge des väterlichen Haushaltes, die Schläge, die Strenge, aber auch auf die schönen Momente des gemeinsamen Musizierens, der musikalisch-dramatischen Aufführungen der Gefangenen etc.
Gut gefallen hat mir der kindliche Blick auf die Geschehnisse von damals, der auch immer etwas Fantasie und Witz in die manchmal etwas bedrückende Erzählung hineinbrachte. Allgemein kann bei Selge, obwohl die erzählte Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht immer leicht war, viel geschmunzelt und auch gelacht werden. Eine gelassene, gelöste Rückschau auf die eigene Kindheit ohne Reue und ohne den Wunsch, Vergeltung zu üben.
Rowohlt Verlag. 24 €.
Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer.
Reinhard Kaiser-Mühlecker ist selbst Landwirt und in seinen schnörkellos erzählten Romanen möchte er die Welt, die er kennt, seinen Lesern erfahrbar machen. Ich finde dieses Anliegen als Enkel ehemaliger Bauern sehr ehrenwert und unterstützenswert. Auch wenn ich selbst niemals in der Lage wäre, einen Bauernhof zu führen, schenken wir doch viel zu selten jenen Menschen Aufmerksamkeit, die unsere Lebensmittel herstellen.
In dem Roman „Wilderer“, dessen Titel bereits andeutet, dass es sich nicht um eine Verklärung des Bauernberufes handelt, sondern um eine einigermaßen realistische Darstellung, geht es um den Protagonisten Jakob. Dieser führt in Oberösterreich einen seit Generationen bestehenden Hof, den er von seinem Vater und dieser wiederum von dem Großvater Jakobs geerbt hat. Auf dem Hof liegt manches im Argen, sowohl wirtschaftlich als auch zwischenmenschlich, bis Jakob eine Frau kennenlernt.
Katja ist Künstlerin, hat aber ein Händchen dafür, die Dinge in die Hand zu nehmen, während Jakob sich eher vom Leben und Schicksal treiben lässt. So bauen die beiden gemeinsam eine neue Zukunft für den Hof auf, indem sie in die biologische Landwirtschaft investieren. Doch die Beziehung wird dadurch belastet, dass Jakobs Naturell als Einsiedler und Einzelgänger sich wieder Bahnen bricht – und dann geht er auch noch fremd. Wird die Beziehung dem standhalten?
Mich hat der Roman sehr berührt und auch mitgenommen als Leser, denn ich konnte mich in die Figuren sehr gut einfühlen, sowohl in Jakob, der eine eher solipsistische und leicht cholerische Ader hat, als auch in Katja, die alles unter Kontrolle halten will. Dann gibt es da noch die Eltern, die Geschwister und die Großeltern, mit denen die Verständigung manchmal schwierig ist, aber Katja bemüht sich darum, die Wogen zu glätten…
Eine vollumfängliche Empfehlung für alle, die das Thema Landwirtschaft nicht abschreckt. Ein besonderes Lob geht auch an die klare, zierlose und aufs Wesentliche fokussierte Sprache Kaiser-Mühleckers, die man in der Gegenwartsliteratur leider immer weniger findet.
S. Fischer Verlage. 24 €.
Mikita Franko: Die Lüge.
Mikita Franko ist ein russischer trans Schriftsteller, der seit seiner Kindheit schreibt und liest und sich heute in der Tradition kasachischer Volksschriftsteller sieht. Der Autor, der in Moskau lebt, äußert sich neben dem Schreiben von Romanen auch politisch, z. B. kritisierte er öffentlich den Ukraine-Krieg. Trotz der Repressalien der Regierung, so Franko, sei es für ihn unmöglich, nicht darüber zu sprechen.
Der Protagonist in „Die Lüge“, ein Roman, der ebenfalls sehr politisch ist, heißt Mikita wie sein Autor. Er wächst in einer Familie auf, die es in Russland eigentlich gar nicht geben dürfte, denn seine Familie ist das, was man gern als Regenbogenfamilie bezeichnet, bestehend aus zwei schwulen Männern und einem Kind. Die beiden Eltern sind Slawa, der mit Mikita das Kind seiner verstorbenen Schwester großzieht, und dessen Partner Lew.
Diese Konstellation funktioniert lange problemlos, doch nachdem Mikita eingeschult wurde, muss er beginnen zu lügen: Er muss allen erzählen, dass Slawa, der das Sorgerecht hat, sein Vater ist, und Lew nur ein Freund, mit dem dieser zusammenwohne. Mit der Zeit wird das Lügen aber anstrengend, Mikita gerät selbst in die Pubertät und muss sich über seine eigene Identität bewusst werden: Wer ist er selbst, der empfindsame und ruhige Junge, der aber auch schon einmal in der Schule ausgerastet ist, weil er den Druck nicht mehr ausgehalten hat, im Strudel der Identitäten?
Ich kann das Buch allen empfehlen, die sich für die Geschichte einer LGBTIQ-Kindheit in Russland interessieren. In Russland ist der Roman mit einer Altersfreigabe von 18 Jahren erschienen, was dem Autor Sicherheit verschafft. Dieser sagt, er sehe in dem Roman kein Risiko für sich selbst, da er in Moskau lebe, der tolerantesten Stadt des Landes.
Der Roman ist übrigens aus einem Blog entstanden.
Aus dem Russischen von Maria Rajer. Hoffmann und Campe Verlag. 24 €.
Édouard Louis: Anleitung, ein anderer zu werden.
„Anleitung, ein anderer zu werden“ (frz. „Changer: méthode“) ist das neueste ins Deutsche übersetzte Werk von Édouard Louis, das ich sehr gern und mit großer Aufmerksamkeit gelesen habe, da ich mich in Teilen darin wiedererkennen konnte. Denn Louis erzählt darin die Geschichte einer Flucht vor seiner eigenen Herkunft, in seinem Fall insbesondere vor seiner niedrigen sozialen Herkunft im benachteiligten Norden Frankreichs.
Wie in seinem Erstlingswerk „Das Ende von Eddy“ („En finir avec Eddy Bellegueule“) handelt es sich um ein Werk zwischen Autofiktion und Autobiographie, das mit den Genregrenzen spielt, und um ein Werk der Selbst(er)findung. Louis beschäftigt sich mit seiner Kindheit, Jugend, Familie, seiner Ausbildung zum Akademiker und Intellektuellen, seiner Homosexualität, aber auch, wie immer, mit sozialer Klasse, sozialer Gewalt, Beleidigungen und Homosexualität.
Manch eine/r wird vielleicht sagen, er wiederhole sich inzwischen. Doch aus meiner Sicht fügt Louis in der „Anleitung, ein anderer zu werden“ seinen bisherigen Lebensberichten eine neue Facette hinzu, indem er dieses Mal eine Art modernen Bildungsroman vorlegt, in dem es darum geht, wie er zu dem geworden ist, werden konnte, der er heute ist. Sein neuestes Buch handelt insbesondere von seiner sozialen und intellektuellen Entwicklung, von der Flucht aus der Armut. Die Flucht, die im Zentrum des Romans steht, war für ihn eine Notwendigkeit, da er als schwuler junger Mann nicht in der Region (über)leben konnte, in der er geboren wurde.
Ein erkenntnisreiches, fesselndes Buch, das an manchen Stellen auch grausam ist, wenn Édouard Louis von seiner grenzen- und bedingungslosen Flucht nach vorne berichtet. Nicht immer ist einem der Protagonist und Autor dabei sympathisch, z. B. wenn er die Bindung zu seiner besten Freundin Elena abbricht, die bis dahin seine Intima war, um nach Paris zu ziehen und mit dem intellektuellen Ziehvater Didier Éribon neu zu starten, aber das macht auch den Reiz des Buches aus.
Aus dem Französischen von Sonja Finck. Aufbau Verlag. 24 €.
Martin Kordić: Jahre mit Martha.
„Jahre mit Martha“ ist der zweite Roman, den Martin Kordić vorlegt. Er hat damit einen Roman geschaffen, der mich sehr berührt hat und nicht losgelassen hat, einen Roman, den ich immer weiterlesen wollte und nicht weglegen konnte. Ein Roman, der sehr gefühlvoll ist und zugleich zum Lachen anregt. Ein wahres Wunderwerk, eine Wundertüte von Roman.
Denn es ist die Geschichte von Željko, dessen Eltern aus Bosnien-Herzegowina zugewandert sind und dessen Mutter als Putzfrau arbeitet, während der Vater auf Baustellen im ganzen Land schuftet und als Hausmeister arbeitet, und einer Heidelberger Professorin namens Martha Gruber. Željko lässt sich von allen nur „Jimmy“ nennen, weil er mit den Sonderzeichen in seinem kroatisch-bosnischen Namen auf Kriegsfuß steht. Stattdessen sehnt er sich nach Aufstieg und Bildung und lernt Wörterlisten auswendig.
Er lernt Martha Gruber bei einem Ferienjob kennen – und allmählich lieben, und auch sie gewinnt den jungen Einwanderersohn lieb, der ihr sowohl, was die Bildung angeht, als auch, was die soziale Klasse betrifft, zunächst fernsteht. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Art von langsamer Beziehung, die über die Jahre durch vereinzelte Treffen, SMS und Briefe aufrechterhalten wird. Sie gehen in die Oper, segeln zusammen, treffen sich im Hotel. Immer gibt Martha, die Privilegierte, den Ton an, sodass die Machtverhältnisse in der Beziehung der beiden klar sind.
Es ist spannend und unterhaltsam, dieser Beziehung beim Lesen zu folgen. In der Beziehung entwickelt sich aber auch Željko weiter: Er geht zum Studieren nach München, wird dort als Hilfskraft angestellt und zunehmend unabhängig. Er wird immer selbstbewusster. Das Buch ist auch die Suche eines jungen Menschen nach sich selbst, der zwischen dem Herkunftsland seiner Eltern und Deutschland und zwischen seiner sozialen Herkunft und dem Bildungsaufstieg hin- und hergerissen ist.
Am Ende wird dem Lesenden klar, dass das Leben als Einwandererkind vielleicht doch nicht so linear nach oben verläuft, wie man sich das im Verlauf des Buches als privilegierter Mensch gewünscht hätte. Die Mehrheitsgesellschaft neigt eben dazu, es Menschen, die anders sind, – egal ob sie andere Namen haben oder eine andere Hautfarbe – schwerer zu machen, als solchen, die sich scheinbar in die vermeintlich normale Mehrheit fügen.
Und so endet Željko am Ende wieder dort, wo er angefangen hat, nämlich in Ludwigshafen bei seinen Eltern. Ein ernüchterndes Ende, das die Gewalt der deutschen Gesellschaft anklagt, wie der etwas pamphlethafte Schluss des Buches klarmacht.
S. Fischer Verlage. 24 €.