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Aus dem Lyrikkabinett: „permafrost“ von Arne Rautenberg

Arne Rautenberg (Copyright: Birgit Rautenberg)

Arne Rautenberg, 1967 in Kiel geboren, lebt seit 2000 als freier Schriftsteller und Künstler in seiner Geburtsstadt. Er schreibt Gedichte, Essays, Kurzgeschichten, Romane und arbeitet für das Feuilleton. Sein literarisches Hauptbetätigungsfeld ist die Lyrik. Viele seiner Gedichte wurden in Schulbücher aufgenommen.

„permafrost“ ist ein Lyrikband, der sich irgendwo zwischen Alltäglichem, Naturbeobachtung, Abgesang auf das Religiöse und Technikkritik verortet. Der Titel „permafrost“ lässt unvermittelt an den Klimawandel denken, tauen die Permafrostböden durch die Erderwärmung doch immer häufiger auf.

Doch politische Kampfliteratur ist dieser Lyrikband keineswegs, vielmehr würdigt das lyrische Ich den Permafrost aus einer ironisierend-spielerischen Perspektive:

der rückgang von permafrost /
wird süß mit dem ersten sonnenstrahl /
der über die gipfelkreuze blitzt /
schau nur sagt dieses licht /
wie ich in deine mächtige hand hineingleite /
und gitzernd zerfalle /
zu milliarden kleinen tröpfchen die in kontakt /
mit dem morast stehen

permafrost

Der vorliegende Gedichtband setzt sich für die genaue Auseinandersetzung mit unserer Umwelt und der Natur ein, wobei dies in einer dialektischen Bewegung zwischen Kultur und Natur passiert. „es braucht manchmal den umweg über die kultur in die natur zurück“, konstatiert das lyrische Ich in „idiots at work“.

In den Kurz- und Langgedichten dieses Bandes erlebt man einen aufmerksamen Beobachter von Naturphänomenen und -schauspielen, von Farben, Bäumen, Wolken etc. Es handelt sich um eine Lyrik im Rhythmus der Jahreszeiten, die die Dinge des Daseins, die Tiere, die Pflanzen, die Umwelt und die einfachen Dinge im Leben ins Bild setzt. Dabei versucht der Sprecher immer wieder, den Sinn zu erfassen, der in einer hoch industrialisierten, religiös entleerten Welt noch übrig bleibt.

Er schließt an Nietzsches Nihilismus („ecce homo“, „kein gott kein hier“) an, sucht aber zugleich etwas wie religiöse Anschauung in der natürlichen Sphäre:

so nietzsche entfaltet seine hauptkräfte in der entstellung /
doch der haubentaucher bewacht seinen andächtigen ernst /
dem wir uns kulturell entzogen haben (…)

nullpunktenergie

Kann die Natur als Ersatzreligion herhalten? Diese Frage stellt der Gedichtband. Und zugleich brechen doch immer wieder die Kultur und die Technik als störende Faktoren in die Naturbetrachtung ein. Technik, Kultur und Natur werden semantisch in Kontrast zueinander gesetzt: Youtube, Streams, Flachbildschirme, Fernsehen vs. Vögel, Azurblau, Himmel und Regenbogen.

Knapp zusammengefasst wird die Poetik dieses „Nature Writing“ im letzten Absatz von „abriss des streams“:

etwas größeres wird kommen /

und es wird nicht lesen wollen es wird /
schreiben müssen über tage farben sterne sender schatten lichter
bilder maler ränder blüten blätter flammen der fließenden welt

abriss des streams

Ein weiteres Thema des Bandes ist die Vergänglichkeit. Gleich zu Beginn stellt der Sohn des lyrischen Ichs in einem philosophischen Dialog mit seinem Vater die Frage nach dem Leben nach dem Tod:

wie ist es denn so /
wenn ich nicht mehr bin /
fragte mein sohn mich /
ich sagte es ihm /
es ist wie es war /
bevor du geboren /
du warst noch nicht da

wenn ich nicht mehr bin

Die Philosophie des lyrischen Ichs gestaltet sich zutiefst weltlich, Gott ist darin nicht vorgesehen. Dennoch macht sich der lyrische Sprecher auf der Suche nach einem Sinn. Teilweise schreibt er in der Tradition barocker Literatur über die Vergänglichkeit und den Verfall („einwegsam“) oder interessiert sich für die höheren, nämlich die kosmischen und astronomischen Dinge, indem er von den Urlaubserlebnissen in Dänemark zu den Bewegungen des Planeten und des Kometen kommt („ende der schwarmintelligenz“) oder die ISS, den Mars und die Mondlandung erwähnt („wunsch wiedergeboren zu werden“).

Formal fällt auf, dass die Gedichte des Bandes konsequent auf Zeichensetzung – Punkt und Komma – sowie auf Großschreibung verzichten. Diese Interpunktion hat eine nivellierende Wirkung. Manche Gedichte stechen durch ihre äußere Formen als Kalligramm hervor, die an die Kalligramme eines Apollinaire anknüpfen: Sie schlängeln sich über die Seite, formen einen Baumstamm mit Wurzeln, zwei Pole, eine Schräge oder eine Treppe. Die Gestalt und den Inhalt in Einklang zu bringen, bereitet beim Lesen Freude, da der Zusammenhang nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich wird. Die meisten Gedichte sind nicht gereimt, Lang- und Kursgedichte wechseln sich im Laufe des Lyrikbandes ab.

Weitere Referenzen des Dichters in diesen Texten sind die Maler Edvard Munch und Picasso und die Dichter Benn und Brecht. An den Schrei von Munch könnte man auch denken, da der Mund immer wieder negativ konnotierte Rolle spielt, mit Wörtern wie „schwarz“, „totenmaul“, „zugrunde richten“ oder „brombeerschwärze“.

Dabei stammen genau aus diesem geschwärzten, den Tod verheißenden Mund die Laute, die die Dichtung Rautenbergs doch so häufig in Form von Lautmalereien und Interjektionen am Ende von nicht wenigen Gedichten ausstößt, wie zum Beispiel „ach“, „knall knall“ oder „uh-hump uh-hump“. Sollte vielleicht jeder Laut ein kleiner Tod sein? Endgültig getilgt wird das Sprechen durch das letzte Gedicht „Silence“, bei welchem das kreisförmig angeordnete Wort „Silence“ von außen nach innen und von innen nach außen gelesen werden kann. Paradox hierbei ist, dass man durch den Sprechakt „Silence“ die Abwesenheit von Sprache zum Ausdruck bringt.

Besonders berührt hat mich das Kapitel „mutteranhänge“, in welchem sich zeigt, dass der lyrische Sprecher nicht mehr zu seiner kranken Mutter durchdringt. Wo in den übrigen Gedichten das Thema des Wahnsinns („ausdauernd draußen“, „christrose“) und der gespaltenen Persönlichkeit („w.i.n.d.z.u.g. v.o.r. a.l.l.e.m. w.a.s. z.e.r.f.a.l.l. i.s.t.“) leise anklang, wird in „mutteranhänge“ deutlich geäußert, dass die Mutter psychisch krank war. Der Abstand zwischen Mutter und Sohn drückt die Lyrik auch in der Typographie aus, indem ein Leerzeichen zu viel gesetzt wird:

ein leerzeichen zu viel
ein leerzeichen zu viel

die unausweichlichkeit der universalität des schlimmsten

Nicht alle Gedichte von „permafrost“ sind eine Entdeckung, bei manchen handelt es sich um bloße Beobachtungssplitter oder gewöhnliche Beschreibungen, die sich nicht in einen größeren Zusammenhang einordnen lassen. Manchmal hat man den Eindruck, der Dichter wollte ohne Rücksicht auf die Verständlichkeit etwas ausprobieren. Doch die große Mehrzahl der Gedichte überzeugt durch die spielerisch-experimentelle Hingabe an die Sprache, das Spiel mit Lauten und Formen, gepaart mit einer feinen Beobachtungsgabe, was Natur, Alltag, Vergänglichkeit, Körperlichkeit und Kosmos angeht.

Der Gedichtband „permafrost“ wurde in die Lyrikempfehlungen 2020 aufgenommen.

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