Aus aktuellem Anlass habe ich mir die Lektüre eines Roman-Klassikers vorgenommen, der gerade angesichts der zur Corona-Krise passenden Thematik eine Renaissance feiern kann, nämlich „Die Pest“ von Albert Camus. Der Roman handelt vom Ausbruch einer Pest-Epidemie in der Stadt Oran in Algerien in dem Jahr 194… und war bereits kurz nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1947 ein großer Erfolg. Die Zeit der Handlung, die in die 40er Jahre des 20. Jahrhunderts fällt, ist bewusst etwas im Vagen gelassen.
Im Zentrum des Buches steht Dr. Rieux, der sich ganz im Sinne von Camus‘ Philosophie der Absurdität des Schicksals stellt und als Arzt den Kampf gegen die Pest aufnimmt. Ihm zur Seite stehen die beiden Herrn Tarrou und der Journalist Rambert, die sich im Laufe der Pest beide in den Sanitätstrupps engagieren.
Die Pestepidemie beginnt ganz leise und harmlos: Zunächst sterben einige wenige Ratten, dann finden sich immer mehr tote und blutende Ratten auf den Bürgersteigen, in den Straßen und den Häusern der Stadt Oran. Schließlich müssen die Ratten massenweise zur Seite geschafft werden. Nach diesem noch nicht auffälligen Auftakt beginnt die Epidemie, auf den Menschen überzuspringen.
Zunächst stirbt der Concierge von Dr. Rieux, der eben noch die Ratten beseitigte. Dann sind immer mehr Menschen von dem pestartigen Fieber und geschwollenen Lymphknoten betroffen, die zuerst einer unbekannten Krankheit zugeschrieben werden.
Die Krankheit wächst sich zu einer wahren Epidemie aus, im Laufe derer die Behörden Beschränkungen des öffentlichen Lebens beschließen. Die Tore der Stadt werden verschlossen, niemand darf mehr hinein- oder hinausgelassen werden. Hierauf beginnt das Exil der Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt, die fortan getrennt von ihren Angehörigen und Partnern leben müssen, wenn diese sich gerade außerhalb der Stadt aufhalten. Der Bericht schildert die Höhen und Tiefen des Kampfes gegen die Pest. Er behandelt einzelne Todesfälle, Krankenbesuche und die Vorgänge in der Stadt wie Fluchtversuche aus der abgeriegelten Stadt mithilfe von Schmugglern. Dabei bezieht der Erzähler, von dem man am Ende erfährt, dass es sich um Doktor Rieux handelt, immer wieder Dokumente von Tarrou ein. Der Roman zeigt dabei den Aufbau eines klassischen Dramas in fünf Akte, wobei die fünf Akte den fünf Entwicklungsstufen der Pest von milde über hoch entwickelt bis hin zu zurückentwickelt entsprechen.
Eine eindrückliche Episode des Romans ist die Schilderung der Predigt des Jesuitenpaters Paneloux‘, der versucht, den Bewohnern Orans die Schuld an der Pest zuzuweisen und der die Pest als Strafe Gottes darstellt. Zwar hat die Predigt zunächst eine große Bedeutung für einen Großteil der zahlreich anwesenden Bevölkerung, doch wird schnell klar, dass weder der Erzähler noch der Verfasser Camus die Ansichten des Paters teilen. Dr. Rieux ist Atheist und möchte dennoch, auch wenn er nicht an Gott glaubt, in einer sinnlos erscheinenden Situation im Sinne der Nächstenliebe und der Zivilcourage handeln und den Pflichten seines Berufs als Arzt nachgehen.
Dr. Rieux steht in „Die Pest“ für den Menschen in der Revolte (l’homme révolté), der sich gegen das sinnlose Schicksal auflehnt, auch wenn er weiß, dass diese Auflehnung umsonst ist. Der Mensch befindet sich nach Camus in einer Situation der Absurdität, die daraus besteht, dass der Mensch in einer sinnverneinenden Welt einen Sinn suche. Im Roman „Die Pest“ werden als möglicher Ausweg aus der Sinnlosigkeit die Werte Freundschaft, Nächstenliebe und Liebe beschrieben, selbst wenn sie die Sinnverneinung und die Absurdität nie ganz aufheben können. Die Sinnverneinung der Umgebung im Aufkommen der Pestepidemie, mit der sich die Einwohner Orans auseinandersetzen müssen. Camus führt hier als neues Element in seinem Werk die ständige Revolte gegen die Absurdität der Welt ein, die er in seiner Essaysammlung „Der Mensch in der Revolte“ (1951) voll entwickelt.
Manche Bewohner, etwa Dr. Rieux und Rambert, kommen daraufhin zu der Schlussfolgerung, dass sie sich gegen das Schicksal, das sich ihnen präsentiert, auflehnen können. Der Journalist besitzt etwa die Liebe zu seiner Frau und nimmt den Kampf gegen die Pest auf, um diese Liebe zu erhalten. So wird er vom Egoisten, der aus der Stadt fliehen wollte, um sein persönliches Glück zu erlangen, zum Altruisten. Auch Grand, der Rathausangestellte, der an einem Buch schreibt, aber nie über den ersten Satz hinauskommt, zeigt früh Solidarität. Er erkrankt zwar an der Pest, aber genest.
Da der Roman in der Zeit „194…“ spielt, bleibt es im Interpretationsspielraum des Lesers, in der Pestepidemie eine Parabel auf die Okkupation Frankreichs im Zweiten Weltkrieg zu lesen. Diese Lesart drängt sich durch die zeitliche Nähe auf. Die Pest steht nach dieser Lesart nicht nur für das Böse in der Welt, sondern speziell für Nationalsozialismus, Faschismus und Totalitarismus. Camus selbst hat 1940 drei Monate in Oran verbracht. Das Jahr 1942 hat Camus in Le Chambon-sur-Lignon verbracht, einem Ort, dessen Bewohner Tausende Flüchtlinge vor den Nazis und den Vichy-Beamten verbargen und ihnen dadurch das Leben retteten.