In „Unsichtbare Tinte“ beschäftigt sich der französische Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano mit seinem Lieblingsthema: dem Kontrast von Erinnern und Vergessen und den Geschichten, die aus diesem spannungsreichen Verhältnis entstehen können. In dem Roman sucht ein Pariser Detektiv über Jahre hinweg mit einiger Ausdauer nach einer verschwundenen Frau, von der von einem Moment auf den anderen jede Spur zu fehlen scheint. Doch er gibt nicht auf, merkt er doch nach einiger Zeit, dass irgendetwas ihn mit dieser mysteriösen Vermissten verbindet…
Wer sich erinnern will, muss sich dem Vergessen anheimgeben, dieser Gefahr, die vollkommenes Vergessen ist, und diesem schönen Zufall, denn aus ihm wird Erinnerung.“
Maurice Blanche
Dieses hübsche Zitat, das als Motto für das Folgende verstanden werden darf, stellt Modiano seinem neuen Roman „Unsichtbare Tinte“ (im Original: „Encre sympathique“) voran – und gibt damit sogleich den Ton und die Atmosphäre vor, die den Text bestimmen werden. Modianos Lieblingsthemen in seinen Büchern sind eigentlich die Fragen der Identität, die er anhand seiner Figuren verhandelt, sowie der Versuch, die Gegenwart durch Erinnerung an die Vergangenheit zu verstehen, aber auch vor allem die Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Okkupation Frankreichs durch die Deutschen, die in fast allen seinen Romanen aufgegriffen wird.
Auch in diesem Detektivroman geht es um die Frage, wer die gesuchte Frau im Grunde ist, wen man sich unter ihr vorstellen muss. Denn gleich zu Beginn seiner Aufzeichnungen – der Leser und die Leserin können gewissermaßen anhand der verschriftlichten Gedankengänge, Handlungen und Notizen des Detektivs an dessen Ermittlungen teilhaben – wird klar, dass die Identität der infrage stehenden Person Noëlle Lefebvre nicht vollständig geklärt, geschweige denn eindeutig ist. Vielmehr gibt es zu ihrer Person einige Fragezeichen: Wer ist sie? Wo hat sie wann gewohnt? Mit wem hatte sie wann Umgang? Wann ist sie verschwunden? Wer hat sie zuletzt gesehen?
All dies versucht der Detektiv, nachdem er den Fall erhalten hat und auch noch dann, als die Akte eigentlich bereits geschlossen ist, durch Nachfragen und -forschungen so genau wie möglich herauszufinden. Sein erster Ansatzpunkt sind die postlagernden Sendungen von Frau Lefebvre, zu denen er sich Zugang zu verschaffen versucht, sowie die Concierge ihres letzten bekannten Wohnhauses im 15. Arrondissement.
Über mehrere Jahrzehnte lässt den Erzähler und Detektiv der Fall von Noëlle Lefebvre nicht los, sodass wir ihn – unterbrochen durch zeitliche Sprünge – dabei begleiten, wie er immer wieder verschiedene Zeugen befragt, deren Aussagen sich aber wiederum teilweise widersprechen oder nicht recht zu einem organisch-logischen Gesamtbild zusammenfügen wollen, und wie er Immobilien, Geschäfte und Orte in Paris und in Lefebvres Heimat aufsucht – alles mit dem Ziel, die Identität und den Aufenthaltsort der Frau im Schatten aufzuklären.
Einen entscheidenden Hinweis erhält er bei dem Besuch in seiner eigenen Heimat, denn, wie er erfährt, verband ihn mehr mit der Gesuchten, als er sich zu Beginn seiner Nachforschungen vorstellen konnte. Allerdings muss man auch sagen, dass mit zunehmender Erzähl- und Lesedauer das Spiel mit den sich widersprechenden Erinnerungen, Hinweisen und Zeugenaussagen, das anfänglich noch zu fesseln vermochte, mehr und mehr an Reiz verliert. Man liest den Roman dennoch zu Ende, da man der Sogwirkung des versierten Erzählers Patrick Modiano erliegt.
Verglichen mit dem erzählerischen Aufwand, mit dem die Spannung auf die Identität der gesuchten Noëlle Lefebvre geschürt wurde, fällt das Ende jedoch zumindest in meinen Augen zu lapidar aus. Man erfährt kaum mehr, als wo Noëlle Lefebvre sich seit Jahren niedergelassen hat, wo sie arbeitet und was sie dazu bewogen hat. Außerdem wird in einem weiteren Kapitel aufgelöst, woher der Erzähler sie als Jugendlicher kannte.
Gut gefallen an dem kurzen Roman haben mir das Spiel mit dem Gegensatz Erinnerung und Vergessen und die selbstverständlich daherkommende erzählerische Unsicherheit, ob die aufeinanderfolgenden, teils widersprüchlichen Zeugenaussagen stets der Wahrheit entsprachen oder durch Gedächtnislücken, falsche Erinnerung oder nicht ganz wahrheitsgemäße Behauptungen getrübt wurden. Außerdem gefällt es mir immer, wenn beim Schreiben, besonders in Tagebüchern oder Notizen, der Schreibprozess mitgedacht und mitberücksichtigt wird, was hier in Form eines hin und wieder aufscheinenden metatextuellen Kommentars in die Tat umgesetzt wurde.
Insgesamt ist „Unsichtbare Tinte“ von Patrick Modiano ein sehr gut geschriebener Roman mit kleinen Schwächen, der vor allem Fans des Erfolgsautors, aber auch Anhängerinnen und Anhängern von solide und traditionell erzählten Romanen sowie Freunden der französischsprachigen Literatur zusagen wird. Es ist ein raffiniert, aber nicht allzu komplex konstruierter, spannender und kurzweiliger Text, mit dem man im Grunde kaum etwas verkehrt machen kann.
Bewertung: 4,5/5
Bibliographische Angaben:
Autor: Patrick Modiano
Titel: Unsichtbare Tinte
Übersetzung aus dem Französischen: Elisabeth Edl
Verlag: Hanser Verlag
Erscheinungsdatum: 15.02.2021
Seitenzahl: 144 Seiten
ISBN: 9783446269187
Kaufpreis: 19 €
Weitere Rezensionen:
Literatur und Feuilleton – TITEL Kulturmagazin – Deutschlandfunk – Deutschlandfunk Kultur – Süddeutsche Zeitung – WDR – SWR