Der Wert der Freundschaft wurde seit jeher in der Philosophie betont. Geoffroy de Lagasnerie veröffentlicht nun ein Buch über eine besondere Freundschaft zu dritt, nämlich diejenige zwischen Didier Éribon, Édouard Louis und ihm selbst, also jenen drei Pariser Intellektuellen, die auch in Deutschland Beachtung finden. Das Werk trägt den Namen „3“, es vertritt jedoch auch einige strittige Thesen, die in soziologischer Theorie eingebettet sind.
Didier Eribon lernte Edouard Louis zum ersten Mal im Jahr 2010 kennen, als dieser noch ein Student war. Die beiden trafen sich zuerst bei einer Lesung und Eribon, ein Dozent an der Universität von Amiens, fand ihn „vraiment pas banal“, wie er Geoffroy de Lagasnerie, seinem Partner, berichtete. In „3“ erzählt de Lagasnerie aus der Rückschau, wie sich die drei das erste Mal trafen. Eribon und Louis, der damals noch Eddy hieß, trafen sich zu einem Kaffee, dann im Restaurant und lernten sich in Gesprächen besser kennen.
Schließlich stellte Eribon den ,nicht banalen‘ Studenten auch seinem Partner Geoffroy de Lagasnerie vor, der wie er selbst in Paris lebt. Beide, Didier Eribon und Geoffroy de Lagasnerie, führten bereits damals, anders als Edouard Louis, das Leben von Intellektuellen, die sich ihren Rang durch eine exzellente akademische Ausbildung (vor allem die Auseinandersetzung mit Soziologie und Philosophie) erworben hatten. Aber letztlich fanden sie, wie später auch Eribon, ihren bevorzugten Platz außerhalb des universitären Systems, außerhalb der Institutionen, in der Literatur und als politisch engagierte öffentliche Intellektuelle.
Didier Eribon war, wie Geoffroy de Lagasnerie in „3“ nicht müde wird zu betonen, mit Pierre Bourdieu befreundet, jenem Soziologen, der für die Theoriebildung der drei befreundeten schwulen Intellektuellen Eribon, de Lagasnerie und Eribon eine zentrale Rolle spielt. Alle drei thematisieren immer wieder Fragen der Klasse, der Herkunft, des Habitus, des Aufstiegs und der sozialen Kämpfe – und haben damit noch etwas vom sonst heute angesichts des Scheiterns des Kommunismus außer Mode geratenen Marxismus in ihrer sonst vor allem Bourdieu’schen Theorie.
„Une aspiration au dehors“ ist der Untertitel des Werkes über die Freundschaft, das de Lagasnerie hier vorgelegt hat – ein ambitioniertes Streben „nach draußen“, über eine gesellschaftlich vorgegebene Grenze, ins Unkonventionelle. De Lagasnerie betont immer wieder, dass die Freundschaft als Lebensform von der Gesellschaft anders als die Familie nicht institutionalisiert ist. Freundschaft wird seit Jahrtausenden von der Philosophie als edelste aller sozialen Umgangsformen idealisiert, und hier macht auch de Lagasnerie keine Ausnahme. Er erhebt die Freundschaft der drei Freunde Eribon, Louis und seiner selbst ins Ideale und zieht daraus Schlüsse darüber, warum die Freundschaft als Form der Existenz besser sei als etwa eine familiäre, institutionalisierte Existenz innerhalb gesellschaftlich vorgesehener Grenzen.
De Lagasnerie geht hier soweit, die Freundschaft als subversiv, kreativ und befreiend zu interpretieren – eine neue Utopie, mit der man die Welt verbessern kann, wenn man dies möchte. Meiner Ansicht nach schießt er hier beizeiten übers Ziel hinaus, wenn er zum Beispiel anhand des Exemplums seiner Freundschaft mit den anderen beiden den „familialisme“ oder „matinalisme“ anprangert. Diese französischen Ismen (von denen der Autor allgemein zu viele verwendet) bezeichnen die Orientierung der Gesellschaft an der Lebensform der Familie, die im Zentrum staatlichen Handelns und Wirkens steht, bzw. die Ausrichtung allen gesellschaftlichen Lebens auf den Morgen, was de Lagasnerie in einem etwas verqueren Turn auf die Kinderbetreuung und die Schul- bzw. Kitazeiten zurückführt.
Die Feindlichkeit, die Familien, Kindern und staatlichen Institutionen in diesem Essay entgegenschlägt, wäre nicht nötig gewesen, und es hätte dem Buch gutgetan, eine Utopie der Freundschaft zu formulieren, die auf eine positive Weise herangeht, ohne sich genötigt zu sehen, alle Institutionen, die der Freundschaft vermeintlich im Wege stehen, zu negieren. Können Familie und Freundschaft nicht parallel existieren? Natürlich hat de Lagasnerie einen Punkt, wenn er sagt, dass viele Freunde sich abwenden, sobald sie eine Familie bekommen und Kinder bekommen. Andererseits hat man den Eindruck, dass Eribon, Louis und de Lagasnerie einen abgeschlossenen Zirkel bilden (obwohl sie viel Umgang mit anderen pflegen), in dem die von Bourdieu inspirierten Gedankengänge sich selbst befruchten und kaum Gedanken von außen zulassen.
Man teilt die Gegner, man teilt die Freunde, man teilt die gleichen Ansichten etc. Die drei verbringen die Tage in Paris so, dass jeder für sich schreibt, sie aber sich regelmäßig in Cafés und Restaurants treffen. Wenn einer der drei Verpflichtungen im Ausland hat, richten die anderen beiden oder einer der anderen beiden es sich so ein, dass sie an denselben Ort reisen können, um weiterhin einen gemeinsamen Rhythmus zu haben. Im Urlaub lesen sie jeweils einen Klassiker zusammen und teilen ihre Leseerfahrungen miteinander. So verbringen die drei Freunde gemeinsame Zeit und teilen Erfahrungen, Lektüren, Freundschaften, Begegnungen…
Eine ideale Freundschaft, die etwas Utopisches, etwas Politisches, etwas Unkonventionelles, etwas Subversives, etwas Queeres und etwas Neues hat. Inwieweit diese Freundschaft hermetisch oder offen ist, kann man von außen schwer beurteilen.
Eine interessante Lektüre und einen neuen, politischeren Blick auf Freundschaft, das hat mir „3 – une aspiration au dehors“ geboten. Leider auch mit einigen Einschränkungen, da das soziologisch-philosophische Fachvokabular und der durchgängige Nominalstil die Lektüre schwerfällig machen. Ein Pluspunkt sind die Schwarz-Weiß-Bilder der drei Protagonisten Eribon, Louis und de Lagasnerie, die die in „3“ immer wieder beschriebene Freundschaft erfahrbar und plastisch werden lassen.
Ich habe das Buch auf Französisch gelesen, auf Deutsch ist es bisher nicht erschienen.
Bewertung: ⭐⭐⭐⭐ 3,5
Geoffroy de Lagasnerie: 3 – une aspiration au dehors. Paris: Flammarion. 21 €.