Der Roman Monsieur Vénus der französischen Fin-de-Siècle-Schriftstellerin Rachilde ist seit einiger Zeit in deutscher Übersetzung erhältlich. Darin geht es um die wohlhabende Protagonistin Raoule de Vénérande, die im 19. Jahrhundert wie ein Mann auftritt und sich einen armen Künstler, Jacques Silvert, zur Frau nimmt. Wir haben mit den beiden Übersetzerinnen Alexandra Beilharz und Anne Maya Schneider über die Autorin Rachilde, ihren Einfluss auf andere Literaten und ihr Werk gesprochen.
Der-Leser.net: Marguerite Eymery schrieb unter dem männlichen Pseudonym Rachilde. Insgesamt schrieb sie über 65 Romane. Ihr skandalösester Roman, der sie bekannt machte und zu ihrem Durchbruch führte, ist der jetzt von Ihnen auf Deutsch übersetzte und bei Reclam erschienene Roman „Monsieur Vénus“. Wie beeinflusste sie mit dem Skandalroman „Monsieur Vénus“ andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller?
Alexandra Beilharz: Rachilde hatte mit Monsieur Vénus ein Erfolgsrezept – die Übertretung gesellschaftlicher und sexueller Konventionen – gefunden. Dieses Erfolgsrezept brachte sie vor allem in ihren eigenen Werken zur Anwendung und entwickelte mehrere Romane nach einem ähnlichen Muster. Das spiegeln sowohl deren Titel (wie Madame Adonis oder La Marquise de Sade) als auch eine ähnliche Thematik, auch Protagonistinnen wie z.B. Mary Barbe in La Marquise de Sade weisen ähnliche männliche Verhaltensmuster auf wie Raoule de Vénérande. Rachilde hat beispielsweise die Schriftstellerin Colette beeinflusst, die in Chéri die gesellschaftlich unmögliche Liebe zwischen einem jungen Mann und einer älteren Frau beschreibt. Unmittelbar von Monsieur Vénus beeinflusst worden sein soll auch Oscar Wilde: Das berühmte „gelbe Buch“, von dem im Dorian Gray die Rede ist, trägt in der Urfassung von Wildes Roman den Titel „Le Secret de Raoul“; dies wurde als Anspielung auf Raoule de Vénérande interpretiert (obwohl Wilde später Joris-Karl Huysmans‘ Roman A Rebours als Vorbild für das gelbe Buch nannte).
Rachilde bezeichnete sich selbst als „homme de lettres“, nicht als „femme de lettres“. Sie war mit Alfred Vallette, dem Herausgeber der literarischen Zeitschrift „Mercure de France“, verheiratet und führte einen literarischen Salon mit Schriftstellern und Dichtern in den Räumlichkeiten des „Mercure de France“. Wer gehörte zu dem Kreis um Rachilde und welche literarischen Einflüsse waren für sie und ihr schriftstellerisches Wirken bedeutsam?
Alexandra Beilharz: Rachilde führte auch nach ihrer Hochzeit mit Alfred Vallette das Leben einer Schriftstellerin. Sie schrieb nicht nur unermüdlich Romane, Kurzgeschichten und Theaterstücke, sondern engagierte sich für die Zeitschrift Mercure de France und avancierte so zu einer überaus produktiven und einflussreichen Literaturkritikerin. Ihr Salon, ihre „Dienstage“, waren berühmt. Dort trafen sich namhafte Autoren und Künstler, z. B. Paul Valéry, Maurice Barrès, Jean Lorrain, Pierre Louÿs und Aubrey Beardsley, aber es kamen auch weibliche Gäste wie die damals berühmte Tänzerin und Schriftstellerin Liane de Pougy.
Die literarischen Einflüsse auf Rachilde waren sicher vielfältig, denn sie lebte abgeschieden auf dem Land und hatte eine große Bibliothek zur Verfügung. Es heißt, sie konnte dort alles „unzensiert“ lesen, was für ein junges Mädchen der damaligen Zeit keineswegs selbstverständlich war. Als junge Frau bewunderte sie Victor Hugo und schickte ihm eine Erzählung. Der berühmte Autor antwortete ihr aufmunternd: „Dank, Beifall, Courage, Mademoiselle.“ In ihren Werken findet sich auch der Einfluss des Marquis de Sade oder von Théophile Gautier, Barbey d’Aurevilly und Charles Baudelaire.
„Monsieur Vénus“ ist ja aus heutiger Perspektive eindeutig ein queerer Roman. Die adlige und reiche Protagonistin Raoule de Vénérande tritt als Mann auf und macht ihren männlichen Geliebten Jacques Silvert, einen armen Künstler, zur Frau. Wie passt das Buch denn in unsere Zeit mit ihren identitätspolitischen Debatten? Handelt es um einen Fin-de-Siècle-Roman mit modernen Transgender-Elementen?
Anne Maya Schneider: Monsieur Vénus berührt Themen, die hochaktuell sind. So möchte Rachilde zum Beispiel mit männlichen Pronomen bezeichnet werden – ihr Anspruch, über ihre Geschlechtsidentität selbst bestimmen zu können, hat etwas sehr Fortschrittliches.
Es handelt sich um einen Fin-de-Siècle-Roman, der Transsexualität thematisiert. Das Spannende ist gerade, dass es keine „modernen Transgender-Elemente“ sind: Der Text drückt die Themen mit den Mitteln der Zeit aus und kann nicht auf später entstandene Theorien bauen. Damit verweist der Roman auf die Zeitlosigkeit des Themas. Monsieur Vénus ist ein Vorläufer moderner queerer Literatur.
Auch Geschlechterrollen und -beziehungen kommen in „Monsieur Vénus“ zur Sprache. Die adlige Raoule nimmt eine eher dominante und beherrschende Rolle ein, Jacques eine eher unterwürfige, anschmiegsame. Führt diese Umkehrung der üblichen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau implizit oder explizit auch zu einer Kritik eben dieser?
Anne Maya Schneider: Der Tausch, den Raoule und Jacques vornehmen, macht in der damaligen Zeit die Geschlechterrollen überhaupt erst erkennbar. Raoule ist „männlich“, da sie Selbstbewusstsein und Stärke zeigt, Jacques durch seine unterwürfige Passivität „weiblich“. Der Roman spielt also mit Stereotypen und Zuschreibungen (und ihm liegt aus heutiger Sicht ein sehr binäres Denken zugrunde). Mit diesen Mitteln gelingt in der Zeit aber erst die Infragestellung und Provokation. Rachilde lotet die Geschlechterrollen radikal und kritisch aus, macht es sich dabei aber nie leicht: Eine gesellschaftliche Legitimation der Umkehrung scheitert, einen Vorschlag für einen „neuartigen“ Lebensentwurf beinhaltet das Ende nicht.
Rachilde hat sich nicht nur als Schriftstellerin hervorgetan, sondern auch durch ihren Stil: Sie kleidete sich in Herrenkleidung, wofür sie eine Erlaubnis (permission de travestissement) der Pariser Polizeipräfektur bekommen hatte. Sie gilt außerdem als einflussreiche Frauenfigur des Fin-de-Siècle. Welche Bedeutung hat Rachilde für die Kultur- und Literaturgeschichte?
Alexandra Beilharz: Rachilde lebte von 1860 bis 1953. Aufgrund ihres langen Lebens, sie wurde 93, ist sie eine literarische Zeitzeugin nicht nur der Jahrhundertwende und der Décadence, sondern auch des Surrealismus, der Zwischenkriegszeit und sogar der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Allerdings blieb sie ihrem Stil weitgehend verhaftet und lehnte moderne literarische Strömungen des 20. Jahrhunderts oft ab.
Rachilde lebte als emanzipierte Frau, war aber keine explizit feministische Autorin, wie sie in ihrem 1928 veröffentlichten Pamphlet Pourquoi je ne suis pas féministe darlegte. Vielmehr nimmt sie durch die Gewagtheit ihrer Themen und durch ihr Leben als unabhängige Schriftstellerin eine Vorbildfunktion ein. Das zeigt sich auch darin, dass mehrere ihrer Romane und Erzählungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts ins Deutsche übersetzt wurden. Dann war die Autorin lange vergessen, nur eine Auswahl ihrer sehr schönen phantastischen Erzählungen war zwischenzeitlich im Deutschen zugänglich. Darunter ist übrigens eine Erzählung, die in Pandemie-Zeiten von besonderer Aktualität ist: In Der Gezeichnete schildert Rachilde in schönster Décadence-Manier das Leben und Sterben eines letzten Überlebenden während der mittelalterlichen Pestepidemie in Florenz.[1]
An welches Publikum richtet sich der Roman?
Anne Maya Schneider: Monsieur Vénus ist spannend für jeden, den das Fin-de-Siècle interessiert, und ebenso für jeden, der seinem Wissen über Transsexualität historische Tiefe geben möchte. Der Roman steckt aber auch voller Erotik, und das Ende greift Elemente des Schauerromans auf – wer damit etwas anfangen kann, kommt ebenfalls auf seine Kosten!
[1] Paul Zifferers deutsche Übersetzung dieser Erzählung hat Alexandra Beinharz in Tralalit (Magazin für übersetzte Literatur) vorgestellt: https://www.tralalit.de/2020/05/20/todbringende-blumen/
Rachilde: Monsieur Vénus. Materialistischer Roman.
Raoule de Vénérande ist eine wohlhabende junge Frau aus altem Pariser Adel. Sie verliebt sich in den Künstler Jacques Silvert, einen jungen Mann aus einfachen Verhältnissen, und macht ihn – nicht etwa zu ihrem Liebhaber, sondern zu ihrer Geliebten und schließlich zu ihrer Frau.
Die französische Literatin mit dem – eher männlich gelesenen – Pseudonym Rachilde schrieb Monsieur Vénus im Paris der 1880er Jahre mit Anfang 20. Sie verstieß mit ihrem Roman so vehement gegen die gesellschaftlichen und sexuellen Konventionen ihrer Zeit, dass das Werk ihr eine Geld- und Haftstrafe einbrachte und nur in einer entschärften Fassung erscheinen konnte.
Übersetzung aus dem Französischen von Alexandra Beilharz und Anne Maya Schneider. Nachwort: Martine Reid. Reclam Verlag. 218 Seiten. 18 €