„Ich bin Zukaa und das ist meine Geschichte“, „Ich bin Yaman und das ist meine Geschichte“, „Ich bin Arin und das ist meine Geschichte“, „Ich bin Ben und das ist meine Geschichte“, „Ich bin Bennu (…). Dies ist meine Geschichte“. Dass fünf der sieben Gesprächsprotokolle mit jungen Geflüchteten auf diese Weise beginnen, macht die Absicht dieses Buchs deutlich: Hier soll den eingewanderten Personen aus Ländern wie Syrien (drei Gespräche), dem Irak, Somalia, Mali und Ägypten eine Plattform geboten werden, die in der üblichen Medienberichterstattung und in der politischen Auseinandersetzung hinter aufgeladenen Schlagwörtern wie Flüchtlinge und „Flüchtlingskrise“ zu verschwinden drohen.
Die Mission, die Individuen hinter der Masse sichtbar zu machen, ist dem schmalen Werk gelungen. Es entstand aus einem Studienprojekt einer Gruppe Studierender der Evangelischen Hochschule Nürnberg heraus, die dieses Herzensanliegen auch nach Beendigung ihres Studiums fortführten. Die Interviews mit den sieben Protagonistinnen und Protagonisten von „Ich bin mehr“ wurden zwischen 2018 und 2020 geführt und anschließend transkribiert und in eine, so kann man sagen, sachliche und prägnante Sprache gebracht. Jedem Kapitel sind ein paar Seiten mit Informationen zu dem jeweiligen Land und seinen Besonderheiten, der aktuellen politischen Lage, den kulturellen Errungenschaften und der Historie, vorangestellt. Diese landeskundlichen Teile habe ich mit großem Interesse gelesen, da sie eine nicht zu vernachlässigende Ergänzung zu den Interviews darstellen.
Doch eigentlich geht es um die Interviewten: Die sieben Personen mit den Namen Zukaa, Yaman, Ola, Arin, Khader, Ben und Bennu stehen im Zentrum dieses Werks, welches ihre Geschichten sehr ernst nimmt. Wer „Ich bin mehr“ liest, erfährt von der quälenden Angst und der Ungewissheit in den Herkunftsländern, die aus den Kriegswirren und den Unruhen dort herrührt. Bombeneinschläge in Schulen und Universitäten, in Wohngebieten und Nachbarswohnungen, unsichere Schulwege… Der verzweifelte letzte Versuch, sein Leben in der Heimat etwas sicherer zu gestalten, indem man in ein anderes Viertel zu Verwandten zieht und die eigene Wohnung aufgibt.
Doch am Ende steht in den Geschichten stets die Entscheidung zur Flucht, da die Unsicherheit zu groß war, die Gefahren überhand genommen hatten, da ein Leben in der Heimat zu wenig Chancen und keine Zukunft bot. Die Flüchtenden sind auf ihrem Weg Richtung Europa auf Schlepper angewiesen, dubiose Männer, die Tausende von Dollar dafür verlangen, dass sie einen über die nächste Grenze bringen oder in überfüllte Boote setzen, die nach Griechenland oder Italien führen.
Auf dem Weg, das lernen wir schnell, begegnen den Flüchtenden zahlreiche Widrigkeiten, Grenzpolizei, die sie festnimmt, ein Mangel an Nahrung, frischer Kleidung und Trinken, Leute, die ihnen ihre letzten Habseligkeiten rauben, Festnahmen wegen illegaler Grenzüberquerung, sprachliche Barrieren, finanzielle Hürden und schließlich endloses Warten auf den nächsten Transfer, ein überteuertes Taxi, einen Bus oder einen Zug, die sie ins nächstgelegene Land überführen.
Schließlich gelangten alle Interviewten nach Bayern und am Ende ihrer langen Reise nach Nürnberg, wo sie heute leben. Die meisten schauen optimistisch in die Zukunft. Sie haben einen Schulabschluss gemacht, absolvieren eine Ausbildung oder studieren gar. Man hat den Eindruck, sie sind in dieser neuen, ihrer zweiten Eindruck ein Stück weit angekommmen, auch wenn sie sich alle – eine weitere Gemeinsamkeit – nach ihrer alten Heimat aus der Zeit vor den kriegerischen Auseinandersetzungen und den Problemen zurücksehnen:
Ich erinnere mich zurück an schöne Zeiten – bis der Krieg anfing. Dann war alles kaputt.
Ola
Ich mag Deutschland und bin sehr dankbar, dass ich hier sein kann. Trotzdem, mein „Zuhause“ bleibt das Aleppo von früher, auch wenn ich es wohl nie mehr so erleben werde.
Zukaa
Einer möchte seine Heimat zurückkehren, um sie wieder aufzubauen, sowie der Krieg vorbei ist. Andere sehnen sich nach ihren Verwandten, Geschwistern, Mutter oder Vater, die anderswo leben oder tot sind.
Was die Ankunft in Deutschland für alle Geflüchteten erschwert, sind rassistische und ausländerfeindliche Einstellungen und Verhaltensweisen. Eine Geflüchtete berichtet, dass ihre Mutter und Schwester komisch angesehen werden, wenn sie auf der Straße das islamische Kopftuch tragen. Sie selbst, die kein Kopftuch trage, mache solche Erfahrungen nicht.
„Ich bin mehr“ ist ein Beitrag zur Verständigung und zur Entpolarisierung, der die Menschen hinter der „Flüchtlingskrise“ zu Wort kommen lässt. Wer sich darauf einlässt, wird mit einem Gewinn an Wissen und Erfahrung daraus hervorgehen.
Bewertung: 5/5
Biographische Angaben:
Herausgeber: Peter Kessler, Julia Köhler, Leonie Petzold, Tobias Rettich
Titel: Ich bin mehr. Junge Geflüchtete erzählen.
Verlag: homunculus
Erscheinungsdatum: 08.09.2020
Seiten: 80
ISBN: 9783946120278
Kaufpreis: 8 €