Seit einiger Zeit lese ich „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust. Die „Suche“ ist auf Deutsch in zwei Ausgaben erhältlich: einerseits beim Suhrkamp-Verlag in der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens, andererseits beim Reclam-Verlag in der Übersetzung des Linguisten Bernd-Jürgen Fischer. Ich habe mir die Reclam-Übersetzung besorgt.
Der erste Teil der „Recherche“: „Combray“
Der erste Band der „Recherche“, den ich gerade lese, heißt „Auf dem Weg zu Swann“ und besteht aus drei Teilen: „Combray“, die Kindheitserinnerungen des jungen Ich-Erzählers an die Ferien in dem fiktiven Dorf Combray, „Eine Liebe von Swann“, ein Roman im Roman, in dem die Liebe Swanns zu Odette beschrieben wird, die er im Salon der Verdurins kennenlernt, und „Ländliche Namen: Der Name“, in dem die Reisewünsche des Ich-Erzählers zur Sprache kommen und in dem er Gilberte, die er in Combray flüchtig gesehen hat, in Paris wieder begegnet. Die Reclam-Ausgabe umfasst Anmerkungen, Literaturangaben, eine Inhaltsübersicht mit Kapitelüberschriften und Seitenangaben und einen Namensindex.
Wie Marcel Proust erzählt
Besonders gefällt mir das langsame Erzähltempo in Prousts Werk, von dessen Erzähler man vielleicht annehmen kann, dass er ebenfalls Marcel heißt. (Doch selbstverständlich ist er nicht mit dem Autor Marcel Proust identisch.) Man muss sich dem Roman beim Lesen ganz hingeben, um die langen Sätze, die Proust formt, auskosten zu können. Die Perioden über mehrere Zeilen haben etwas Beruhigendes und können einen sogar in den Schlaf wiegen.
Doch wer jetzt denkt, das Werk wäre langweilig, irrt sich. Denn die Beobachtungen, die Proust mit den Lesern teilt, sind scharfsichtig und scharfsinnig: Er nimmt sein Umfeld sowohl als Kind als auch später als Erwachsener aufmerksam wahr: Der Erzähler schreibt nieder, welche Eigenheiten und Besonderheiten die Personen in seiner Umgebung auszeichnen. Er hält fest, welche Gepflogenheiten und Sitten sie haben und wie sie sich benehmen. Auch ihre Mimik und Redearten entgehen seiner Beobachtungsgabe nicht.
Und ebenso wie den menschlichen Angelegenheiten widmet sich der Erzähler, vor allem im ersten Teil „Combray“, der Natur. In der Gegend um das Haus der Tante Léonie macht die Familie gern Spaziergänge. Je nach Wetterlage gehen sie einmal zur einen Seite des Hauses, ein andermal zur anderen Seite des Hauses. Dort begegnet uns auch zum ersten Mal Charles Swann, auch Monsieur Swann genannt.
Gäste und der Gute-Nacht-Kuss
Er ist regelmäßiger Gast der Familie Proust, sehr zum Leidwesen des jungen Erzählers. Denn empfängt die Familie Gäste, kommt seine Mutter in der Regel nicht nach oben, um ihm einen Gute-Nacht-Kuss zu geben. Dabei ist das genau jene Form der Zuneigung, die er sich von seiner Mutter so sehr wünscht.
An einem Abend, an dem Gäste im Haus sind, greift er zum letzten Mittel, um diesen Kuss doch noch zu erhalten: Er bleibt so lange auf, bis seine Eltern auch zu Bett gehen und in den ersten Stock des Hauses steigen. Dort fängt er sie ab, um doch noch einen Kuss von seiner Mutter zu erbitten. Sehr zur Überraschung des jungen Bittstellers wird sie ihm gewährt, obwohl er eine Strafe für sein Verhalten erwartet hätte. Seine Mutter darf in dieser Nacht sogar in seinem Zimmer schlafen, um ihn zu beruhigen.
Die „Madeleine de Proust“
Und natürlich erfahren wir auch von der allseits bekannten „Madeleine de Proust“, die uns bereits im ersten Teil der „Recherche“ namens „Combray“ begegnet. An dieser Stelle ruft eine in Tee getauchte „Petite Madeleine“, ein französisches Gebäckstück in Jakobsmuschelform, eine ganze Reihe unwillkürlicher Erinnerungen hervor. Nach Prousts Wortgebung werden diese Erinnerungen als „mémoires involontaires“, unbewusste Erinnerungen, bezeichnet.
Und im gleichen Augenblick, in dem dieser Schluck, mit den Krümeln des Kuchen vermischt, meinen Gaumen berührte, fuhr ich zusammen, gebannt durch das Außergewöhnliche, das sich in mir vollzog. Eine freudige Erregung hatte mich durchströmt, völlig zusammenhanglos, ohne jeden Anhaltspunkt für ihre Ursache. […]
Und dann ist mir ganz plötzlich die Erinnerung erschienen. Dieser Geschmack war der des kleinen Stücks Madeleine, das meine Tante Léonie mir sonntagmorgens, wenn ich in ihr Zimmer ging, um ihr guten Morgen zu sagen […], in Combray angeboten hatte, nachdem sie es in ihren Aufguss von Teeblättern oder Lindenblüten getaucht hatte. […]
Und nachdem ich den Geschmack des in Lindenblütentee getauchten Stücks Madeleine, das mir meine Tante damals gab, wiedererkannt hatte […], trat auch das alte graue Haus, wo sich an der Straßenfront ihr Zimmer befand, wie eine Theaterdekoration zu dem kleinen rückseitigen Häuschen hinzu, das man für meine Eltern im hinteren Teil des Gebäudes erbaut hatte […]; und mit dem Haus die Stadt, von morgen bis abends und durch alle Jahreszeiten, der Markt, auf den man mich vor dem Essen schickte, die Straßen, in denen ich Besorgungen erledigte, die Wege, die man bei schönem Wetter einschlug.
Combray
Dies ist die erste – und berühmteste – unabsichtliche Erinnerung des Erzählers, von der im Laufe des siebenteiligen Werkes noch zahlreiche weitere folgen werden.
Die Kunst als Bezugspunkt
Eine große Rolle im Opus von Marcel Proust spielt auch die Kunst, die Kunst als Bezugspunkt, die Kunst als Mittel der Verarbeitung von Erinnerungen, als bessere Erfahrungsform als die Wirklichkeit. So liest bereits der junge Erzähler im ersten Abschnitt „Combray“ Romane von George Sand, die ihm seine Großmutter geschenkt hat. Diese ist der festen Überzeugung, dass selbst Kinder nur literarisch wertvolle Bücher lesen sollten. Ein Freund, Bloch, empfiehlt ihm die Lektüre des Schriftstellers Bergotte, dessen Name in der „Recherche“ für den Schrifsteller schlechthin steht. Und so wächst der junge Erzähler in einer kulturell gebildeten Umfeld auf, sowohl musikalisch als auch literarisch und was die Bildenden Künste angeht.
Der zweite Teil: „Eine Liebe von Swann“
In „Eine Liebe von Swann“ erleben wir, wie sich Monsieur Swann, etwa 15 Jahre vor den Geschehnissen in Combray, in Odette de Crécy verliebt. Diese Liebe ist eine Liebe gegen seinen Stand. Denn Odette ist eine Halbweltdame, eine Kokotte, die in der aristokratischen Gesellschaft, in der Swann sich bewegt, nicht anerkannt werden wird. Stattdessen führt Odette ihre neue Bekanntschaft Swann zu Beginn in den Kreis der Verdurins ein. Die Verdurins führen einen Salon, in dem ein Arzt, Künstler und Gelehrte verkehren. Doch regiert wird der Salon von Madame Verdurin, die über die Einladungen entscheidet und darüber, welche Gäste erwünscht sind.
Eifersucht und vergeudete Liebe
Zum Salon verschlägt es Swann von nun an regelmäßig, aus dem einzigen Grund, weil er mit Odette verkehren möchte. Diese begleitet er nach dem abendlichen Salon regelmäßig nach Hause. Auf einem dieser Nach-Hause-Wege darf er an ihrer Kateleya richten, die in ihrem Ausschnitt steckt, was zu einer bisher ungekannten Intimität zwischen den beiden führt. Die beiden kommen sich näher, doch das Glück des Paars wird auch bedroht: durch die Eifersucht, die „jalousie“, von Monsieur Swann.
Es entspannt sich im Laufe des Romans im Roman ein kleines Liebesdreieck zwischen Monsieur Swann, Odette und dem mitten im Geschehen auftauchenden Monsieur Forcheville, der sich um die Gunst Odettes bemüht. Und auch ein anonymer Brief, der Charles Swann über die bewegte amouröse Vergangenheit Odettes informiert, trägt zu Swanns Eifersucht bei. Demnach habe sie Erfahrungen mit dem gleichen ebenso wie mit dem anderen Geschlecht und habe Stundenhotels frequentiert.
Am Ende bleibt nur der Ausruf:
Dire que j’ai gâché des années de ma vie, que j’ai voulu mourir, que j’ai eu mon plus grand amour, pour une femme qui ne me plaisait pas, qui n’était pas mon genre !
Charles Swann, Eine Liebe von Swann
Soll man’s glauben, dass ich Jahre meines Lebens vergeudet habe, dass ich habe sterben wollen, dass ich meine größte Liebe erlebt habe – für eine Frau, die mir nicht gefiel, die nicht mein Fall war!
Heirat trotz allem
Dennoch wird Charles Swann seine Geliebte Odette de Crécy heiraten und sie damit zur Madame Swann machen. Die beiden werden, wie man im ersten und dritten Teil des ersten „Recherche“-Bandes erfährt, die gemeinsame Tochter Gilberte Swann bekommen. Und eben diese Tochter wird die Aufmerksamkeit des Erzählers wecken, der in etwa ihr Altersgenosse ist.
Der dritte Teil: „Ländliche Namen: der Name“
Im Original „Noms du pays: le nom“ genannt, zeigt dieser Teil der „Recherche“ einerseits die Bedeutung der Namen. Der Erzähler träumt sich zu Beginn dieses Werkteils in nähere und fernere Städte: zunächst in den fiktiven normannischen Badeort Balbec, dann aber auch nach Norditalien, nach Florenz und Venedig. Alle diese Orte stellt er sich bildhaft und traumhaft vor – die Plätze, die Kirchen, die Paläste…
Ich stelle mir deshalb die Städte, Landschaften, Monumente nicht als mehr oder weniger erfreuliche, hier und dort aus dem gleichen Material geschnittene Ansichten vor, sondern jede einzelne von ihnen als ein Unbekanntes, das wesentlich verschieden war von allen anderen, nach denen meine Seele dürstete und die zu kennen ihr nützlich sein würde.
Ländliche Namen: der Name
Wie sehr nahmen sie doch dadurch, dass sie durch Namen bezeichnet wurden, einen individuellen Charakter an, durch Namen, die nur zu ihnen gehörten, Namen wie die, die Personen tragen.
Fischer merkt dazu mit Verweis auf Genette an, dass die Namen in der „Recherche“ „tatsächlich äußerst instabil sind“ (S. 657). „Odette, Gilberte, Madame Verdurin ändern ihre Namen“ beispielsweise, „Albertines und Gilbertes werden miteinander verwechselt“.
Vereitelte Reisepläne
Die Reise nach Norditalien, die der Erzähler sich erträumt, kann für einen kurzen Moment fast stattfinden. Sein Vater möchte ihm über Ostern eine Reise nach Florenz und Venedig ermöglichen; doch kurz vor der Abreise erkrankt der Erzähler, weshalb der Erzähler auf ärztliche Anordnung ein Jahr keine Reise antreten darf.
Uns, den Leserinnen und Lesern, entgeht auf diese Weise der Reisebericht aus Italien, der sicherlich interessant geworden wäre. Einen solchen erhalten wir dafür im zweiten Teil der „Recherche“ von Marcel Proust: In „Im Schatten junger Mädchenblüte“ („Jeunes filles en fleurs“) geht er ausführlich auf eine Reise nach Balbec in die Normandie ein.
Wiederbegegnung mit Gilberte
In „Ländliche Namen: der Name“ begegnet den Leserinnen und Lesern außerdem Gilberte wieder, die bereits in „Combray“ einen kurzen Auftritt hatte. Schon damals in Combray war der junge Erzähler von diesem Wesen mit dem wohlklingenden Nachnamen Swann verzückt. Und auch zurück in Paris hat seine Begeisterung für Gilberte nicht nachgelassen, als er sie beim Spielen auf den Champs-Elysées erneut antrifft.
Es erinnert ein wenig an die beginnende Liebe von Swann zu Odette, wie der junge Erzähler fortan jeden Tag an denselben Ort, den Park, zurückkehrt, um seine Herzensdame wieder zu treffen. Und wie in „Eine Liebe von Swann“ ist die Suche nach der Geliebten selbstverständlich nicht immer von Erfolg gekrönt. Der junge Erzähler geht mit der Haushälterin Françoise, die ihn begleitet, durch ganz Paris spazieren und kehrt wieder zum Ausgangspunkt, den Champs-Elysées zurück, um nur ein Zeichen von Gilberte Swann oder ihrer Familie zu finden.
Doch langsam muss er sich eingestehen, dass die Liebe zu Gilberte wohl eher einseitig ist: Während er sich tagtäglich nach ihr verzehrt, macht es ihr kaum etwas aus, wenn sie einen oder mehrere Tage, ja gar in den Ferien mehrere Wochen, den Erzähler nicht zu Gesicht bekommt.
Begegnungen mit Madame Swann
Dennoch reißt die Obsession des Erzählers für die Familie Swann nicht ab: Im letzten Teil des ersten Bandes der „Recherche“ erzählt er, wie er regelmäßig in den Bois de Boulogne geht, den Wald im Westen von Paris, nur um Madame Swann zu begegnen. Denn diese geht dort praktisch jeden Tag in der „Akazienallee“ und in der „Königin-Marguerite-Allee“ spazieren. Jedes Lebenszeichen von den Swanns, jeder noch so lose Kontakt mit ihnen ist dem Erzähler recht, um seiner Begeisterung für diese Familie genüge zu tun. Er ist von der Eleganz der Madame fasziniert, die sich besonders mondän kleidet.
Nostalgie gegen Ende und „fin de siècle“
Am Ende des Werks bedauert der Erzähler den Niedergang der Eleganz in den zeitgenössischen Tagen: Automobile, riesige, vollgestopfte Frauenhüte ohne jegliche Finesse, Männer ohne Hüte; nch nichts sehnt sich der Erzähler so zurück wie nach den feineren, eleganteren Tagen jener Zeit, in denen die Frauen noch schlichte, elegante Kleidung trugen.
Diesen nostalgischen, wehmütigen Abschluss, der nicht ohne eine gewisse Polemik gegen die Gegenwart und die Modernität auskommt, hätte man von einem so temperierten Erzähler kaum erwartet! Man sieht: Marcel Proust kann auch überraschen, will vielleicht auch überraschen. Mit einem Crescendo beschließt er seinen ersten Band, der einen Einblick in die bürgerliche und aristokratische Gesellschaft im Paris der Jahrhundertwende, des „fin de siècle“, erlaubt.
Der Prix Goncourt für die „Recherche“
Die „Recherche du temps perdu“ ist eines der bedeutendsten Roman-Werke des 20. Jahrhunderts. Sie wird mich in nächster Zeit noch etwas begleiten, da ich vorhabe, die weiteren Bände zu lesen. Für den zweiten Band der „Recherche“, „Im Schatten junger Mädchenblüte“, erhielt Proust noch zu Lebzeiten den Prix Goncourt.
Autor: Marcel Proust
Reihe: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Titel: Auf dem Weg zu Swann
Übersetzung und Anmerkung: Bernd-Jürgen Fischer
Genre: Roman, Klassiker
Verlag: Reclam
Erscheinungsdatum: 27.09.2013
Seiten: 694
ISBN: 9783150109021
Kaufpreis: 29,95 €
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Vielen Dank für diesen Beitrag zur „Recherche“. Die Zusammenfassung gefällt mir sehr gut für Einsteiger in das Proust-Universum. Ich werde oft gefragt, wie man sich dem Werk nähern kann – solche locker und anschaulich geschriebenen Rezensionen machen neugierig und erhöhen die Chance neue Leser zu gewinnen.
Ich freue mich schon auf die hoffentlich bald folgenden…..
Vielen Dank für die Blumen! Es freut mich, wenn mein Schreiben einen Nutzen hat.
Die weiteren Bände muss ich erst selbst lesen. Mit jedem gelesenen Band folgt dann eine neue Rezension.