Khaled Alesmael arbeitet als syrisch-schwedischer Schriftsteller und Journalist. Sein Debütroman handelt von dem schwulen Flüchtling Furat, der vor dem Krieg nach Schweden flieht und dabei mit der in seiner Heimat und der Flüchtlingscommunity geächteten Homosexualität zurechtkommen muss. Der Roman erschien auf Schwedisch und Deutsch, wurde aber ursprünglich in englischer und arabischer Sprache verfasst.
Furat ist eines von sechs Geschwistern und der einzige Sohn in einer Familie aus der Oberschicht in Syrien. Er geht einem Studium der Englischen Literatur nach, ehe er als Journalist in Damaskus zu arbeiten beginnt. Während des Studiums hat er eine Liebschaft mit einem jungen Medizinstudenten, mit welchem er für kurze Zeit ein Studentenwohnheimzimmer teilt, nach dem Studium erlebt er eine „Lovestory“ mit einem Mann namens Pierre aus Damaskus, den er wegen des gefährlichen und langen Weges nur selten sieht. Außerdem frequentiert er sowohl vor als auch während seiner Flucht in Syrien und in der Türkei hin und wieder Parks, Hammams und Kinos, in denen sich Schwule heimlich treffen, auf die Gefahr hin, dabei von der Polizei erwischt zu werden.
Homosexuelle Handlungen sind in Syrien als „widernatürliche“ Handlungen per Gesetz durch den Artikel 520 des Strafgesetzbuches von 1949 verboten und können mit einer Haftstrafe von bis zu drei Jahren geahndet werden, allerdings werden sie offenbar seltener verfolgt als in anderen Ländern wie im Irak oder dem Iran. So muss auch Furat mit der offenkundigen gesellschaftlichen Ausgrenzung seiner Sexualität leben, die er nur seiner Mutter und seiner Tante gesteht. Durch den Arabischen Frühling und die Revolution, die eine Veränderung der Strukturen einfordert, gewinnt er an Selbstvertrauen und Hoffnung, auch wenn sich letztlich tatsächlich nur wenig an den Gegebenheiten ändert.
Die Revolutionäre veranstalten in den Straßen Blitz-Kundgebungen, um nicht von der Geheimpolizei erwischt zu werden, und verbreiten die Videoaufnahmen davon über das Internet. Doch die Revolution und deren Anliegen werden mit grausamer und roher Gewalt niedergedrückt, wie wir alle aus den Nachrichten über den seit 2011 anhaltenden syrischen Bürgerkrieg wissen. Es gehen Bomben nieder, Detonationen zerstören Häuser, Menschen werden auf offener Straße erschossen, Häuser werden geplündert und zerstört, selbst die Zivilisten sind nicht mehr sicher.
Angesichts dieser Lage entscheidet sich der Protagonist Furat zur Flucht nach Europa. Zunächst führt ihn sein Weg in die Türkei, wo er einige Zeit damit verbringt zu warten, bis ihm seine Schlepper Bescheid geben, dass die riskante Weiterreise mit dem Boot beginnt. In dieser seltsamen Zeit des Wartens lernt er Figuren aus der schwulen und transsexuellen Istanbuler Szene kennen, darunter die Stricherin Baklava und die Zuhälterin Mama Nabila, die einen Selamlik betreibt, was auf türkisch die „Herrenräume“ eines Hauses bezeichnet. Auch diese beiden sind aus ihren Heimatländern geflohen und, statt nach Europa weiterzureisen, in der Türkei geblieben.
Um die für Herren reservierten Räume des Hauses, den titelgebenden Selamlik, geht es in dem Roman immer wieder: Zunächst ist da das männliche Studentenwohnheim zu Beginn, dann die Hammams und schwulen Kinos. Und zuletzt, als Furat bereits an seiner Destination Schweden angekommen ist, das Flüchtlingswohnheim, in dem ebenfalls nur Männer wohnen. Während seiner Zeit in Schweden, als er auf den Asylbescheid wartet und danach, hält der Protagonist seine Erinnerungen an Syrien und seine Familie fest und erzählt rückblickend seine eigene Geschichte.
Erneut muss er seine eigentliche Sexualität vor der Mehrzahl der anderen Flüchtlinge verbergen, denn die Haltung der Männer gegenüber LGBTQ hat sich mit der Flucht in ein europäisches Land nicht zugunsten von mehr Akzeptanz geändert. Stattdessen versuchen sie ungeschickt, sich durch zotige Späße über vorübergehende Frauen gegenseitig ihre Männlichkeit zu beweisen.
Es scheint daher angesichts der nach außen getragenen konservativen Einstellung der Männer den Leserinnen und Lesern wie ein Wunschtraum des Erzählers, wie eine schiere Erfindung, als nach einer sexuell aufgeladenen Unterhaltung unter den Asylbewerbern in dem Badezimmer schwuler Geschlechtsverkehr zwischen Furat und zwei anderen Männern stattfindet. Nicht immer ist die Sexualität in diesem Buch so eindeutig, wie es sich manche wünschen würden. Da werden Heterosexuelle plötzlich ein wenig schwul, verheiratete Männer verkehren in einschlägigen Szeneetablissements und anschaffende, transsexuelle Frauen haben Macht über Schlepper, Touristen und Lkw-Fahrer.
Ein weiteres und mindestens genauso wichtiges Thema dieses Buches ist die familiäre Geschichte des Menschen Furat. Im Rückblick erleben wir die enge Bindung Furats an seine fürsorgliche und religiöse Mutter, seine Versuche, sich mit Religion auseinanderzusetzen, wir nehmen Anteil an der Hochzeit seiner Schwester und am Tod seiner Cousine. Dabei werden wir auch an verschiedene Orte und in unterschiedliche Landschaften Syriens eingeführt – von Aleppo über Damaskus bis nach Deir ez-Zor, wobei einem von letzterem vor allem die Hochbrücke sowie die Ölfelder im Gedächtnis bleiben. All dies bringt mit sich, dass die Leserin und der Leser die Kultur und die Lebensweise dieses kriegsgeplagten Volkes näher kennenlernen.
Furat muss sich vor den Behörden in Schweden rechtfertigen, dass er tatsächlich aufgrund seiner Homosexualität in Syrien verfolgt wird, während gerade seine Cousine Laila gestorben ist. Er muss sich ein neues Leben aufbauen, eine neue Sprache und Kultur erlernen, während in seiner Heimat noch immer Menschen sterben, unterdrückt und ermordert werden. Im Angesicht unserer vergleichsweise geringen Sorgen ist vielleicht auch die parodistische Szene in der Sprachschule in Göteborg am Ende des Textes zu verstehen, in welcher eine Schwedisch-Lehrerin vor der versammelten Klasse von Migrantinnen und Migranten Unterricht zu erteilen versucht, während ihre Schülerinnen und Schüler sich in einer ausschweifenden Orgie mit den verschiedensten Sexualpraktiken ergehen.
Der Roman ist weitgehend in einer literarischen, bildhaften und flüssigen Sprache geschrieben. Das Einzige, was mir nicht so gefallen hat, waren die teilweise wirklich expliziten Sexszenen, insbesondere die Szene im Badezimmer und die Orgie am Schluss, denen es gut getan hätte, wenn sie noch literarisiert worden wären. In der jetzigen Form wirken sie etwas zu unüberlegt geschrieben und daher trivialer als der Rest des Romans.
In den letzten drei Kapiteln spielt der Erzähler ein wenig mit der Form: Zunächst erzählt er die Geschichte einiger seiner wichtigsten Kleidungsstücke, die er auf der Flucht getragen hat, daraufhin berichtet er in den Kapiteln 11 und 12 in einer Art Meta-Kommentar von der verlegerischen Geschichte seines Textes bzw. eines Prä-Textes zum vorliegenden Roman. Ein Verleger aus Beirut hat nach anfänglichem Interesse das angebotene Manuskript abgelehnt, da in der Geschichte Intimitäten zwischen Männern zur Darstellung kamen. Der schwedische Verleger – und in Schweden kam der Roman ja schließlich zur Veröffentlichung – interessierte sich für die Frage, ob der Autor das Erzählte tatsächlich erlebt hat.
Man stellt sich die in der Tat spannende Frage, inwieweit die Geschehnisse dieses Romans autobiographisch sind, beim Lesen immer wieder. Diese kann aber wohl nur der Autor dieses Stückes autofiktionaler Erzählung selbst beantworten. Für mich war dieses etwas experimentelle Ende eine nette Ergänzung, ich hätte es aber nicht unbedingt gebraucht. Stattdessen hätte ich mir gewünscht, dass die Erzählung über das Schicksal von Furat in Schweden noch weiter geht. So weiß man zwar am Ende, dass Furats Asylbescheid positiv war und dass er einen Sprachkurs für Schwedisch besucht, doch die Frage, ob er tatsächlich in dem neuen Land angekommen ist und wie er dort seine Sexualität ausleben kann, bleibt offen. Die parodistisch ins Surreale übersteigerte Orgie mit den anderen Sprachschülerinnen und -schülern kann darauf keine Antwort geben.
„Selamlik“ ist insgesamt weit mehr als nur ein Buch über Schwulsein oder über Flüchtlinge. „Selamlik“ ist ein Buch über die Wichtigkeit von Erinnerungen, von Gemeinschaft und von Menschlichkeit, aber auch von Humor in schwierigen Zeiten, das den Weg eines einzelnen Flüchtlings von Syrien über die Türkei bis nach Schweden mit all seinen Hürden und Schwierigkeiten nachzeichnet.
Khaled Alesmael fordert durch die Darstellung von Furats individueller Fluchtgeschichte zur Empathie und zum Verständnis auf. Statt Mitleid zu haben, kann man sich in „Selamlik“ mit den persönlichen Erinnerungen, Gedanken, der Kultur und Sprache eines Migranten beispielhaft auseinandersetzen. Ein weiterer positiver Aspekt des Romans ist, dass arabischer und türkischer Kulturwortschatz in großer Zahl verwendet wird, der am Ende des Buches in einem Glossar erläutert wird. Man erfährt ganz nebenbei viel über Syrien, die arabische Kultur und das Aufwachsen in einem arabischen und islamischen Land, in dem Gesetzmäßigkeiten wie patriarchale Männlichkeit, die Lehren der religiösen Lehrer und die Bande der Familie eine bedeutsame Rolle spielen.
Bewertung: 3,5/5
Bibliographische Angaben:
Autor: Khaled Alesmael
Titel: Selamlik
Verlag: Albino Verlag
Übersetzung aus dem Arabischen und Englischen: Christine Battermann/Joachim Bartholomae
Seitenzahl: 256 Seiten
ISBN: 9783863003029
Kaufpreis: 24 €
Weitere Rezensionen:
Deutschlandfunk Kultur – taz – Arcimboldi’s World – the little queer review – Queer.de – Sissy Magazin
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