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Die stille Kunst des Lesens

Es gibt Leserinnen und Leser, die ihre Meinung rasch bilden, die eine Haltung einnehmen, bevor der Text überhaupt zu sich selbst gefunden hat. Und es gibt andere – vorsichtiger, leiser, beinahe scheu –, die sich beim Lesen nicht in den Vordergrund drängen, sondern Raum lassen: dem Text, dem Zwischenraum, dem Ungefähren.

F. war einer von ihnen.

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Er war keiner, der sich vorschnell ein Urteil erlaubte. Er ging selten geradeaus, eher tastend, immer ein wenig seitlich versetzt, als wolle er dem Text nicht zu nahe treten – und sich selbst auch nicht. Er las nicht, um etwas festzuhalten, sondern um sich berühren zu lassen. Es war eine Art des Begleitens: ein Gehen neben dem Gedicht, nicht über ihm.

Sein Blick war wach, beinahe zärtlich für das Unfertige, das Abbrechende, das in der Schwebe Gehaltene. Wo andere Schwächen vermuteten, vermutete er Absicht. Wo andere das Gedicht auf eine Aussage festnageln wollten, ließ er es atmen. Manchmal sprach er mehr mit den Rändern als mit dem Zentrum eines Textes – aus einem Bewusstsein heraus, dass Bedeutung oft dort beginnt, wo Sprache an ihre Grenzen stößt.

Er mochte das Schlichte, aber nicht das Banale. Ihn reizte das, was sich dem Zugriff entzog, was nicht gleich auf der Zunge lag. Wenn er Gedichte las, dann nicht als Beweismittel oder Behauptung, sondern als vorsichtige Annäherung an etwas, das man nicht besitzen kann – wie der Wind in einer Falte Stoff. Vielleicht war es das, was ihn so besonders machte: dass er das Flüchtige nicht fürchtete, sondern ihm Raum ließ.

F. hatte keine Thesen, er hatte Fragen. Und er war klug genug, nicht immer eine Antwort zu verlangen. In einer Zeit, die sich so oft in Eindeutigkeiten verliert, bestand sein Mut gerade darin, das Uneindeutige zuzulassen. Es war keine Pose, sondern eine Haltung. Man konnte ihm beim Denken zusehen, und das Denken war bei ihm nie ein Kraftakt, sondern eine Form der Zuwendung.

Was er sagte, war selten laut. Kritik kam leise, fast beiläufig, mit einem Seufzer im Hintergrund. Nichts an seiner Lektüre war kühl oder analytisch im engeren Sinn – eher war es ein waches, durchlässiges Mitgehen. Vieles, was gelesen wurde, blieb für ihn offen – nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus Respekt vor dem Uneindeutigen.

Es gab eine leise Melancholie in seinem Blick, ein Wissen um die Brüchigkeit aller Bedeutung. Aber keine Bitterkeit. Wenn er über Literatur sprach, dann wie jemand, der weiß, dass Sprache nicht heilt – aber tröstet. Und dass Trost nicht darin liegt, dass etwas besser wird, sondern dass man es gemeinsam aushält.

Ein feiner Geist, fragil vielleicht, aber nie wehleidig. Eher jemand, der zwischen den Silben lebt – und ihnen eine Heimat gibt, ohne sie zu fixieren. Sein Schreiben war keine Bühne, sondern ein Gespräch. Und vielleicht ist das seine tiefste Haltung: nicht zu glänzen, sondern zu verstehen.

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