Éric Vuillard schreibt Erzählungen, in denen er große Momente der Geschichte auf verdichtete und literarische Weise wiedergibt und sie aus einer neuen Perspektive erzählt. In dem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Werk „Die Tagesordnung“ (2018) tat er das mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten im Jahr 1933, in „14. Juli“ (2019) blickte er aus der Perspektive des Volks auf die französische Revolution.
In „Der Krieg der Armen“ (2020) verfasst Vuillard die anschauliche Geschichte der Volksaufstände und der Reformationsbewegung, wobei er diese an mehreren Orten, in England, Böhmen und Thüringen, und über einen größeren Zeitraum, zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert, verortet. Lebhaft schildert er im Präsens und mit prägnanten Sätzen das Geschehen. Darunter mengen sich bisweilen überraschende Ausrufe wie „Peng!“ oder „Auwei!“ Im Zentrum des Textes stehen die Theologen und Kirchenreformer John Wyclif (England), Jan Hus (Böhmen) und Thomas Müntzer (Thüringen).
Der Philosoph und Theologe John Wyclif (ca. 1330 bis 1384), der bereits im 14. Jahrhundert die Idee von der direkten Beziehung zwischen Mensch und Gott postulierte und die Bibel ins Englische übersetzte, gilt Vuillard als ein Wegbereiter der Reformation und des Kampfes für die Rechte der einfachen Menschen. Auf sein Wirken reagierte Rom mit einer Bulle, die seine abweichenden Ansichten verurteilte. Sein Schüler John Ball predigte die Gleichheit aller Menschen, wurde allerdings verhaftet. 100.000 Bauern fanden sich in England zusammen, um gegen die vom Parlament beschlossene poll tax und die Leibeigenschaft zu rebellieren. Doch ihr Kampf sollte vorerst erfolglos bleiben.
Daraufhin wird auf wenigen Seiten die Geschichte des Theologen, Predigers und Reformators Jan Hus (1370 bis 1415) abgehandelt. Dieser predigte in Prag zugunsten einer Reform der Kirche und für den Ungehorsam der Gläubigen, weshalb der Papst auch gegen ihn Bullen verfasste, die „in Richtung Böhmen flattern“. Das Volk in Prag probte den Aufstand, die Studenten setzten die päpstlichen Bullen in Flammen. Angesichts dieser Unruhen wurde Hus kurzerhand zum Ketzer erklärt, eingesperrt, verurteilt und verbrannt.
Nachdem die zentrale Figur des Buches, Thomas Müntzer, bereits zu Beginn kurz vorgestellt wurde, wird die Erzählung über ihn nun wieder aufgenommen. Es ergibt sich ein Dreiklang der Reformatoren, der den Eindruck erwägt, als hätten Wyclif, Hus und Müntzer sich gegenseitig über geographische Grenzen und, was Müntzer angeht, auch zeitliche Hürden hinweg beeinflusst und befruchtet.
Müntzer (1489 bis 1525) lebte und wirkte später als seine beide Vorgänger. Vuillard fasst die Person Müntzer in begreifbare Bilder und macht den Charakter nachvollziehbar, ohne den Lebenslauf in allen Details abzubilden. Müntzer wurde im Harz geboren und studierte in Leipzig. Zunächst war er in Braunschweig tätig. Ab 1520 predigte er in Zwickauf. Als der Stadtrat ihn dort des Aufruhrs verdächtigte, musste er erneut den Ort wechseln. Er ging nach Prag in Böhmen, wo er ab 1521 in der Bethlehemskapelle predigte und das Prager Manifest verfasste.
Nach mehreren weiteren Stationen wurde er Pastor in Allstedt. Er forderte die Messe auf Deutsch und verlangte von den Fürsten, der Reformation keinen Widerstand zu leisten. Vuillard konzentriert sich bei seiner Darstellung auf das Jahr 1525, in dem Müntzer sich in Mühlhausen aufhielt und zum Anführer im Deutschen Bauernkrieg in Thüringen wurde.
Den Kampf zwischen den Truppen der Bauern und dem hessischen Landgraf sowie dem Fürsten stellt Vuillard plakativ, bildhaft und spannend dar. Mühlhausen und Erfurt bilden das Zentrum der Bauernerhebung, die im Süden in Schwaben ihren Ursprung nahm. Müntzer fordert zur Tötung der „gottlosen Fürsten“ auf. Ob er den Aufstand überlebt?
Der weitgehend auktorial erzählte Text wechselt an manchen Stellen in die Ich-Form, wenn es besonders lebhaft werden soll. Dann schildert der Erzähler unmittelbar in der 1. Person, was er gerade vor sich sieht, als setzte er die Vergangenheit auf einer Leinwand vor den Augen der Leserinnen und Leser in Szene. In diesen Augenblicken verschmelzen Gegenwart und Vergangenheit, Erzähler, Leser*innen und berichtete Geschichte miteinander. Eine Kritik bezieht sich auf die stellenweise zu gewagte Bildsprache: Auch ohne manches allzu geschraubte Bild und manchen übertrieben wirkenden Vergleich hätte Vuillard seine Botschaft – die ungetrübte Leidenschaft für die Geschichte – vermitteln können.
Das Büchlein „Der Krieg der Armen“, das man in einem Zug durchlesen kann, hat mir die Geschichte der Reformation auf lebhafte Weise näher gebracht. Man merkt dem Text die flammende Begeisterung des Autors für alles, was mit Geschichte zu tun hat, an jeder Stelle an. Dieser Enthusiasmus kann einen für den Moment der Lektüre und auch danach mitreißen und lässt einen an den Schicksalen der Reformkämpfer Anteil nehmen.
Vuillard gelingt es mit dem pathetisch-bedeutungsschwangeren Ton des Buches, für die Kämpfe derer zu sensibilisieren, die am Rande der Gesellschaft stehen. Er rückt die Habenichts, die von Armut Geplagten, die sonst vergessenen, einfachen Bauern und Arbeiter ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ein Schelm, wer da eine gewollte – oder zufällige – Parallele zu den zeitgenössischen Erhebungen wie der Gelbwestenbewegung (mouvements des gilets jaunes) in Frankreich zieht. Deren Demonstrationen gegen die Kraftstoffsteuer, für die Senkung der Steuern und zugunsten der Anhebung des Mindestlohns und der Renten dürfte Vuillard, so muss man nach diesem Werk voller Sympathie für die Bauernaufstände annehmen, mit einer ordentlichen Portion Wohlwollen begegnen.
Schließlich stellt der Autor mit Blick auf die Kämpfe der Armen und der Unterdrückten fest:
Und das ist nicht das Ende der Geschichte. Es ist nie zu Ende.
Offensichtlich ist er nicht Teil derer, die an ein „Ende der Geschichte“ glauben, wobei die Geschichte bei ihm die Geschichte aus dem Blickwinkel des gemeinen Volkes und dessen Rechte meint.
Bewertung:
Bibliographische Angaben:
Autor: Éric Vuillard
Titel: Der Krieg der Armen
Übersetzung aus dem Französischen: Nicola Denis
Verlag: Matthes & Seitz
Erscheinungsdatum: 06.03.2020
Seiten: 64
ISBN: 9783957578372
Kaufpreis: 16 €
Weitere Rezensionen:
Literatur-Blog – Buch-Haltung – LiteraturReich – FAZ – Literaturkritik – WDR
vom sujet her spricht dieses buch wohl jenes an, was mich seit jahrzehnten begleitet: das leben der anderen, die nicht das privileg haben, teil der (westlichen) wohlstandswelt der 10–15 % der weltbevölkerung zu sein. insofern taucht bei mir natürlich gleich die frage nach klassismus auf … zielt dieses buch auch in diese richtung, oder verbleibt es eher im fokus auf die bauern, die als repäsentanten der armen verortet werden; jedenfalls verstehe ich deine ausführungen so.
lässt das buch anklänge erkennen, die die refomation als wegbereiter für x, y oder z in der moderne verortet? gibt es also auf auktorialer ebenene evlt. kleine verwebungen diesbezüglich?
mir fiel bei dem kontext spontan das buch »erschlagt die armen!« von shumona sinha ein. sicher, das ist ein großer assoziativer sprung, im kern sehe ich da aber eine parallele, denn während vuillard die bauern als die armen verortet, tut dies sinha in bezug auf asylsuchende …
viele grüße,
steffen
Guten Tag Steffen,
danke für den Hinweis auf „Erschlagt die Armen“, das wollte ich schon lange lesen.
„Der Krieg der Armen“ ist schon vor allem auf das historische Sujet, also den Bauernaufstand und die Auflehnung gegen die Obrigkeit und die Kirche, beschränkt. Aber man kann natürlich Parallelen zu heutigen Protestbewegungen ziehen.
Viele Grüße
Florian