In seinem neuen Buch erzählt Hervé Le Tellier, der Autor von „Die Anomalie“, die Geschichte eines französischen Widerstandskämpfers aus der Drôme. Le Tellier zieht während der Pandemie in das Dorf La Paillette, wo er in einer ehemaligen Keramikwerkstatt ein Haus kauft. Dort entdeckt er auf einer Mauer, die an die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs erinnert, den Namen von André Chaix.
Weiterlesen: „Der Name an der Wand“ von Hervé Le TellierNeugierig geworden, recherchiert Le Tellier das Leben dieses Mannes. André Paul Chaix wurde am 23. Mai 1924 geboren und fiel am 23. August 1944 in Dieulefit, nur wenige Kilometer von seinem Heimatort entfernt. Mit gerade einmal 20 Jahren kämpfte er in der Résistance, genauer in der FTP (Francs-Tireurs et Partisans), einer Partisanentruppe der Forces Françaises de l’Intérieur (FFI). Im August 1944, kurz vor der Befreiung Frankreichs, stieß das 3. Bataillon Morvan auf eine deutsche Panzerkolonne. Dabei wurden sieben junge Résistance-Kämpfer getötet, unter ihnen André Chaix, der posthum mit einem Orden ausgezeichnet wurde.
Le Tellier zeichnet mithilfe von Familienarchiven, historischen Dokumenten und Akten des französischen Widerstands – darunter das Dossier AC 21 P – das Leben von André Chaix nach. Die Bäckerei seiner Familie existiert in La Paillette noch heute. Sein Vater Jean, ebenfalls Bäcker, starb 1983, seine Mutter Marcelle 1993 – Jahrzehnte nach dem Verlust ihres Sohnes.
Doch so präzise die Dokumente auch erscheinen mögen, Le Tellier verwischt die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion. In seiner literarischen Rekonstruktion mischen sich belegte Daten mit Vermutungen, „vielleicht“ und „wahrscheinlich“ werden zu erzählerischen Freiräumen. So entsteht keine streng historische Biografie, sondern ein Roman, der Geschichte, Erinnerung und persönliche Erkundung kunstvoll verbindet.
Wie Annie Ernaux in ihren autoethnografischen Texten, verwebt Le Tellier historisches Material mit literarischen Mitteln. Die eingestreuten Fotografien und Originaldokumente erzeugen den Eindruck von Authentizität, während der Erzähler zugleich immer wieder die Unsicherheit seiner Quellen thematisiert. Am Ende ist es weniger eine Lebensgeschichte von André Chaix, sondern vielmehr ein Beispiel für das Schicksal unzähliger junger Résistance-Kämpfer – ein exemplarisches Leben, das Le Tellier auch an einem anderen Namen der Erinnerungstafel hätte entwickeln können.
Sein Buch ist damit zugleich eine Geschichtslektion und ein fesselnder Roman: ein Lob für Le Telliers Fähigkeit, das Vergangene lebendig zu machen und dabei stets auch unsere eigene Gegenwart zu spiegeln.
Bewertung: 5/5
Hervé Le Tellier: Der Name an der Wand. Aus dem Französischen von Romy Ritte und Jürgen Ritte. Rowohlt Verlag. 24 Euro.