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Geschichte zu Herkunft und Identität: Wo kommst du her?

Wo kommst du her? Meine Schülerinnen und Schüler haben oft wenig oder gar keine Deutschkenntnisse. Doch schon der erste Kontakt schlägt den Ton an: „Wie ist Ihr vollständiger Name? Wo kommen Sie her? Seit wann sind Sie in Deutschland? Wann sind sie geboren.“ Ihre Antworten leiern sie herunter wie ein Gedicht.

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Als Geburtsdatum nennen sie den 01.01., weil sie schlichtweg nicht wissen, wann sie geboren sind.

Aber im Ernst, das Thema Herkunft kann anstrengend sein. Heute ist es ein Tabu, danach zu fragen. Auf dem Schulhof aber, da läuft das völlig unbefangen. Da ist die Frage nach der Herkunft das Eintrittsticket in die richtige Clique. Man könnte fast meinen, sie haben eine geheime Regel aufgestellt: „Du darfst zu uns, wenn du den Namen deiner Hauptstadt buchstabieren kannst.“

In den Pausen sieht es aus wie bei einem Länder-Contest. Hier stehen die Ukrainischsprachigen und beraten über das beste Rezept für Borschtsch, dort die Arabischsprachigen, die sich streiten, ob es „Hummus“ oder „Hum-mus“ heißt. Und dann gibt es noch die Südosteuropäer, die mich regelmäßig mit ihrem genauen Wissen über Rapper überraschen. Ich habe das Gefühl, sie wissen mehr über die Charts als ich über den Lehrplan.

Einmal wollte ich es ganz pädagogisch angehen. Ich fragte: „Warum steht ihr immer in diesen Gruppen? Redet doch mal mit jemand anderem!“ Die Antwort kam prompt: „Aber Herr Birnmeyer, die verstehen uns nicht!“ Ich: „Na, dann redet doch Deutsch!“ Sie: „Aber Herr Birnmeyer, wir verstehen uns selbst ja schon kaum!“ Regelmäßig sagen die Schüler zu mir, dass sie an der Schule mehr Russisch, mehr Arabisch und mehr Türkisch lernen.

Die Schüler haben übrigens eine grandiose Selbstironie. Sie nennen sich selbst „Ausländer“ – selbst die, die hier geboren sind. Letztens meinte ein Schüler: „Herr Lehrer, ich bin ein waschechter Ausländer!“ Ich: „Aber du bist doch in Nürnberg geboren!“ Er: „Ja, aber mein Herz ist im Urlaub!“

Manchmal wünschte ich, diese Kreativität würde sich auch im Unterricht zeigen. Im Deutschunterricht schreibe ich „Wortfeld Familie“ an die Tafel, und die Schüler gucken mich an, als wäre ich ein Außerirdischer. Genau dasselbe passiert, wenn man das Thema Gedichte behandelt, denn alles muss unmittelbar einen Nutzen haben.

Das Schönste ist, dass sich die Gruppen zwar auf dem Pausenhof bilden, aber sich die Schülerinnen und Schüler auch manchmal von der einen Gruppe in die andere trauen. Die Gesetze des Schulhofs sind nicht in Stein gemeißelt. Ein Schüler mit arabischen Wurzeln ist plötzlich angesagt bei den russischen Jungs, weil er ein Talent für Schach hat. Und die Südosteuropäer feiern die Ukrainer, wenn sie auf dem Fußballplatz glänzen.

Am Ende ist es doch so: Egal, woher sie kommen, die Schüler wollen einfach dazugehören. Sie wünschen sich weniger Schublade und mehr Anerkennung.

4 thoughts on “Geschichte zu Herkunft und Identität: Wo kommst du her?

  1. Nur zum Geburtsdatum 1.1.:

    Seit Januar 2016 betreuen meine Frau und ich einen syrischen Flüchtling, der aus einer gebildeten Familie stammt, in seiner Heimat Wirtschaft studierte und in Aleppo als Bankangestellter arbeitete. Er durfte seine Ehefrau nachholen, beider Sohn wurde 2019 in Deutschland geboren, er arbeitet auch hier wieder als Bankangestellter und ist inzwischen deutscher Staatsbürger. In allen seinen offiziellen Dokumenten steht der 1.1.1985 als Geburtsdatum. Er wurde aber am 25.12.1984 geboren und weiß das auch. Die beurkundenden Stellen in seinem Heimatland haben, so berichtete er uns, „der Einfachheit halber“ für ihn wie für viele andere seines Jahrgangs den 1.1. des Folgejahres als Geburtsdatum eingetragen, was nicht zuletzt den Vorteil hatte, dass er seine Einberufung zum Wehrdienst erst mit dem Jahrgang 1985 bekam. Sein Geburtstag wurde in seiner Heimat gefeiert, solange er ein Kind war – und zwar immer am 25. Dezember!

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