Der Roman „Offene See“ des Schriftstellers und Journalisten Benjamin Myers wurde 2020 als „Lieblingsbuch der Unabhängigen“ ausgezeichnet. Darin geht es um den jungen Schulabgänger Robert aus einer Bergarbeitergegend in Nordengland, der nach dem Schulabschluss durch England wandert und dabei eine lebensverändernde Freundschaft mit der älteren Dame Dulcie schließt.
Der Roman beginnt damit, dass ein älterer Mann, der Ich-Erzähler, sich Fragen zur Vergänglichkeit stellt. Er blickt inmitten eines renovierungsbedürftigen Hauses auf sein Leben zurück und beginnt an einem Roman zu schreiben, eine der Tätigkeiten, die er noch ausüben werde, solange er sich mitteilen könne. Dieser etwas rätselhafte Beginn, der am Ende des Buches wiederaufgegriffen wird, sodass sich ein Rahmen ergibt, macht auf jeden Fall neugierig.
Im zweiten Kapitels beginnt die eigentliche Geschichte, die kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in England angesiedelt ist. Die Erinnerung an den Krieg ist noch frisch. Die Not, Ängste und die Traumata der Menschen, die den Krieg erlebten, sind zwar noch nicht überwunden, doch allmählich nimmt das Leben notgedrungen wieder seinen Lauf. Inmitten dieser weltpolitischen Lage muss der 16-jährige Ich-Erzähler Robert seinen Platz in der Welt finden.
Er ist in einer Bergbauregion im Norden Englands aufgewachsen, hat gerade seine letzten schulischen Prüfungen abgeschlossen und möchte nun die Welt jenseits seiner eng umgrenzten Heimatregion kennenlernen. Zu diesem Zweck macht er sich mit einem Rucksack auf eine Wanderung durch den Norden Englands, während der er sich als Tagelöhner mit Gelegenheitsarbeiten auf Farmen und Höfen verdingt und mal hier, mal dort schläft.
Die Wanderung hat noch ein anderes Ziel: Der junge Protagonist möchte zumindest eine Zeitlang dem vorgezeichneten Weg entkommen, der nach dem Schulabschluss den Männern seiner Familie und seiner Region vorbestimmt ist und der die Männer zur Arbeit in der lokalen Zeche führt. So war es bei seinem Großvater und bei seinem Vater – und so sollte es auch bei ihm sein. Dass die Arbeit im Schacht nichts für ihn ist, merkt der Erzähler – und begibt sich auf die Reise, die ihm für eine Weile einen Aufschub gewährt.
Dabei legt er besonderen Wert auf die Beobachtung der abwechslungsreichen Natur um ihn herum. Die detaillierten und atmosphärischen Naturbeschreibungen, die Myers hier vorlegt, sind wirklich hervorragend! Man erkundet mit dem jungen Mann Heidelandschaften, Moore, Seen, Bäche, Wälder, Pflanzen, ehe er sich entschließt, nach Süden zu wandern, um endlich das Meer zu sehen. An der Meeresküste macht der junge Robert eine alles verändernde Bekanntschaft, die sich zu einer Freundschaft entwickeln wird: Er stößt bei Scarborough in North Yorkshire auf das Cottage der älteren Dame Dulcie Piper, in welchem sie inmitten eines riesigen verwilderten Gartens mit ihrem Schäferhund Butters, auch Butler genannt, lebt.
Diese nimmt ihn sofort gastfreundlich bei sich auf, als ob sie sich schon lange kennen würden. Dulcie ist ganz anders als die Menschen, die Robert von zuhause kennt, zum Beispiel lehnt sie die Kirche und Religion ab, was ihn zugleich irritiert und fasziniert. Außerdem erhält sie durch gute Kontakte im Dorf und in der Stadt Speisen wie Hummer, die eigentlich in der allgemeinen Not und in Zeiten von Lebensmittelrationierung nach dem Krieg nicht zu bekommen sind – ein wahrer Luxus! Die resolute Dulcie führt Robert in eine neue Welt und Kultur ein, sie trinkt mit ihm Brennnesseltee und führt mit ihm lange und tiefsinnige Gespräche über den Sinn des Kriegs, den (Un)sinn der Feindschaft zu den Deutschen, das Reisen usw.
Für die Einladung und die gute Bewirtung bedankt sich der junge Gast bei Dulcie, indem er Arbeiten im Garten und am Haus verrichtet, das Unkraut jätet, später auch die Hecken zurechtstutzt und schließlich den kleinen Schuppen im Garten renoviert, mit dem Dulcie schlechte Erinnerungen verbindet. Und so bleibt er letztlich viel länger in dem Cottage wohnen, als er ursprünglich wollte, und schließt die ungewöhnliche Besitzerin des Hauses und Gartens ins Herz. Sie bestärkt ihn darin, seinen eigenen Weg zu gehen, zu reisen und nicht aufgrund elterlicher Erwartungen einen bestimmten Beruf wie die Arbeit in der Zeche zu ergreifen: „Meiner Erfahrung nach entpuppen sich Leute, deren Karrieren vorherbestimmt sind, irgendwann als einfältige Langweiler.“
Robert versucht mehrmals, Dulcie Pipers Haus und Garten hinter sich zu lassen und weiterzuwandern, doch nie schafft er es, für längere Zeit fortzubleiben. Denn immer wieder zieht ihn die unkonventionelle Art der alten Dame an oder ein Zufall treibt ihn zurück zu dem Cottage:
[S]ie hatte mich einfach so genommen, wie sie mich kennengelernt hatte, und, mehr noch, sie hatte es für angebracht gehalten, mich wie jemanden zu behandeln, der ihre Aufmerksamkeit wert war – nicht ganz auf Augenhöhe, denn sie war offensichtlich ein kluger, weltgewandter und geistreicher Mensch, was man von mir nun nicht gerade behaupten konnte. Dennoch hatte ich in unserer kurzen gemeinsamen Zeit das Gefühl gehabt, als würde ich zu jemand anderem.
Nach seiner ersten Rückkehr erfährt Robert, dass der Gartenschuppen einst ein Künstleratelier war und dass sich bei Dulcie einmal eine „furchtbare Geschichte“ ereignet hat. Spannung kommt auf. Was ist damals passiert, das Dulcie ihm und den Leserinnen und Lesern bislang nicht erzählt hat? Kurz darauf findet Robert ein Manuskript bei der Renovierung der alten Gartenhütte, das mit dem Titel „Offene See“ überschrieben und Dulcie gewidmet ist. Doch wer ist die Dichterin namens Romy hinter diesem in einer Hütte verstauten Gedichtmanuskript? Was ist mit ihr geschehen?
Nur so viel sei verraten: Romy war eine Deutsche, die 1933 außer Landes gehen musste und welche Dulcie in ihrem Londoner Exil kennenlernte. Zwischen den beiden gab es von Beginn an eine starke Anziehungskraft. Die beiden zogen aufs Land, wo Dulcie ein Cottage hatte, weil Romy es in London nicht mehr aushielt. Der erste Gedichtband war ein Erfolg und führte zu einer Lesereise durch ganz Europa und die USA. Wegen ihrer deutschen Herkunft wurde sie nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs kaum mehr beachtet. Die Geschichte Romys, die stets ein poetisches Leben geführt hatte, endete tragisch.
Der Sommer vergeht rasch: Dulcie und Robert machen einen Ausflug mit dem Auto.lieb Dulcie, die ehemalige Imkerin, beginnt wieder mit der Imkerei und Robert schließt die Erneuerung der Gartenhütte ab. Außerdem wirft Robert ein Auge auf die Mädchen am Strand, die ihm am Abend nicht aus dem Kopf gehen wollen, wobei Dulcie ihn ermuntert, seine Jugend zu genießen und sich eine Freundin zu suchen. Abends liest Robert Gedichte – und schließlich lässt sich Dulcie überzeugen, den letzten Gedichtband von Romy zu veröffentlichen, obwohl sie zunächst zögerte.
Für beide Protagonisten ist die Begegnung lebensverändernd, mehr noch für Robert als für Dulcie, der sich am Ende entschließt zu studieren und Schriftsteller zu werden, anstatt in der Zeche zu arbeiten, und der immer wieder auch in den darauffolgenden Jahren im Sommer zu dem Cottage zurückkehren wird, um schließlich ganz zu bleiben. Am Ende des Textes schaut der Schriftsteller noch einmal auf sein Leben zurück: Er hat ein Buch nach dem anderen geschrieben, die Leserschaft wurde kleiner. Zuletzt verfasst er einen Roman über den entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben, der die Weichen gestellt hat.
Man kann auch etwas Kritik üben: Inhaltlich ist der Text von Benjamin Myers zwar tadellos, ein Roman, den man gerne liest, doch die Bilder und Metaphern sind teilweise etwas überzogen. Was ist zum Beispiel eine Wiese, die als „kränklich und ein bisschen larmoyant“ beschrieben wird? Benjamin Myers erzählt in „Offene See“ insgesamt eine hoffnungsvolle, die Generationen überschreitende Geschichte, fernab des Alltags, genau wie man sie während des Lockdowns braucht, um sich von der Eintönigkeit des Homeoffice abzulenken. Die Erzählung versetzt einen für einige Zeit nach England, aber was noch wichtiger ist: in den verwilderten Garten und das Haus von Dulcie, wo eigene Gesetzmäßigkeiten und Regeln gelten. Dulcie ist eine aufgeweckte und etwas extravagante alte Frau, deren Temperament und meist gute Laune die Leserinnen und Leser anstecken werden. Ein wenig erinnert „Offene See“ mit dem ungewöhnlichen Verhältnis zwischen Robert und Dulcie an den Film „Harold und Maude“, wenn man davon absieht, dass sich hier keine Liebesgeschichte entwickelt, sondern nur ein sehr enges freundschaftliches Verhältnis.
Mich hat es sehr berührt zu lesen, wie sich allmählich eine tiefe und letztlich lebenslang haltende Freundschaft zwischen Robert und Dulcie aufbaut, wie die beiden sich über tiefsinnige Dinge bei Wein, anderen Spirituosen und gutem Essen unterhalten und wie Robert einerseits sein handwerkliches Geschick unter Beweis stellen kann, indem er Dulcie im Garten zur Hand geht, andererseits aber auch Gefallen an Dulcies Gedichtbänden und vor allem an dem Manuskript findet, welches er im Gartenschuppen findet.
Es ist auch dieses „Dolce Vita“, dieses prall gelebte, genussvolle Leben, das das Buch zu einem Lesegenuss macht, auch wenn es angesichts der Verortung in der Nachkriegszeit vielleicht nicht immer der Realität entspricht. Dazu scheint es im Hause Dulcie Piper keinerlei Rede- und Denkverbote zu geben, was für die damalige Zeit eher unkonventionell war. Ich habe das Buch bereits in den Weihnachtsferien gelesen, aber dann lange liegen lassen. Warum ich es solange nicht besprochen habe, weiß ich nicht, aber ich glaube, es hat damit zu tun, dass ich Angst hatte, der tiefsinnigen, bewegenden Geschichte von Dulcie und Robert nicht ganz gerecht zu werden.
Eine klare Leseempfehlung!
Bewertung: 5/5
Bibliographische Angaben:
Autor: Benjamin Myers
Titel: Offene See
Übersetzung aus dem Englischen: Klaus Timmermann, Ulrike Wasel
Verlag: Dumont Verlag
Seitenzahl: 270 Seiten
Erscheinungsdatum: 20.03.2020
ISBN: 9783832181192
Kaufpreis: 20 €
Weitere Rezensionen:
Literaturkritik.de – Deutschlandfunk – Die lesende Käthe – Leseschatz – Literaturzeitschrift – Lesendes Federvieh – Letteratura – Buch-Haltung