Manchmal ist ein Gedichtband wie ein sich öffnender Raum, in den man den Kopf steckt, um die Dunkelheit darin auszuleuchten. Georg Leß’ neuer Band Lindwurmsichtungen & Berichtigungen ist ein solcher Raum, der sich öffnet. Kaum aufgeschlagen, öffnet sich ein Raum aus besonderer japanischer Bindung, tiefviolettem Umschlag und doppelt geschlagenem Papier: ein bibliophiles Versprechen, das nicht nur nach Aufmerksamkeit, sondern nach langsamer, fast ritueller Lektüre verlangt.
Leß’ Lyrik ist in diesem Band weniger eine Abfolge von Gedichten als eine Expedition. Acht Gedichte, nummeriert mit römischen Ziffern, bilden die erste Etappe, acht Berichtigungen die zweite. Schon das Wort ,Berichtigung‘ ist bemerkenswert: Es ruft den Gestus der Wissenschaft auf, den Versuch, Beobachtungen zu überprüfen, zu präzisieren, vielleicht sogar zu widerrufen. Die römischen Ziffern verleihen den Gedichten einen offiziellen Charakter. Doch Leß treibt kein kühles Protokollieren; er lässt Sprache fließen, stolpern, sich wieder fangen. Wie der titelgebende Lindwurm windet sich der Text durch die Seiten, schlägt Haken, verschwindet im Unterholz.
Es ist dieser Lindwurm, der die Grundstimmung vorgibt. Der Drache, die Schlange, das Fabelwesen, das Menschen frisst, und hier, so scheint es, auch Gedanken. „Acht Füße wie Flossen: im Fluss filtre …“ heißt es, und plötzlich ist der Leser selbst in einen Fluss gestürzt, sieht das Dunkel mitfließen, hört das Knirschen der Sprachschuppen:
acht Füße wie Flossen: im Fluss
filtre, falls er klarer fließen muss, filetiere, schluck, schon seh ich:
er sieht mich fließt zäh landwärts, um sich einzugraben,
glaubhaft versickern, wie er zum Abschied sagte, selbst die Wunde
worin jetzt baden? im unscharfen Erinnern, trüg dich gern
auf meinem Wappen, kann es leider nicht erzwingen
derart aus der Übung und nur selbst darauf zu finden
Das Gedicht ist nicht mild, nicht freundlich, aber es ist musikalisch, es filetiert und fließt weiter, auch wenn man kurz Atem holen möchte.
Dabei liegt über all dem eine feine Schicht Humor. Leß lacht, aber es ist ein kontrolliertes Lachen, ein Lachen um eine Wunde herum. Manchmal ist es trüb, manchmal fast komisch, und immer formbewusst. Es gibt Stellen, an denen man tatsächlich laut auflacht, weil der Text so elegant eine Kurve nimmt, die man nicht kommen sah. Diese Mischung aus Heiterkeit und Dunkelheit macht den Band zu einem seltenen Leseerlebnis: Er kann schwer sein und gleichzeitig leichtfüßig, und das, ohne in Koketterie zu verfallen.
Das Buch der Berliner Corvinus Presse ist ein buchkünstlerisches Meisterwerk in japanischer Bindung. Die drei Original-Grafiken (eine ist signiert) der Ocheredko Art Twins: Kateryna & Tetiana Ocheredko, verstärken diesen Eindruck und verbinden sich mit den Texten. Die Linolschnitte geben der Sammlung eine visuelle Struktur, sie sind wie Wegmarken oder Warnschilder auf dieser Expedition. Manchmal wirken sie wie Störungen, als wären sie selbst Teil der Berichtigungen. So entsteht eine Spannung zwischen Wort und Bild, die den Leser weiter in das Dunkel hineinzieht.
Am Ende steht eine Poetik, die sich nicht auflösen lässt. Lindwurmsichtungen ist keine Sammlung von Beweisen, keine Jagdtrophäe. Es ist eine Suche, die das Gefundene gleich wieder in Frage stellt.
Keine Sichtung, eine Störung schlängelte eitel sich über die Linse, Flüchtigkeitsfehler aus Gras oder Haar schielte hinein als Rohmaterial. „Er liegt gekrümmt am dunklen Ort / Im kleinen Schrank am Spiegel dort, / Da hat er seine Höhle“, schreibt Chamisso, Naturwissenschaftler.
„Keine Sichtung, eine Störung“ heißt es hier, und vielleicht ist genau das die Pointe: dass die Wurmgestalt selbst aus unseren Blicken gemacht ist, aus unseren Deutungen.
Leß’ Band ist damit ein Buch der Transformation, des Wurms, der Sprache, vielleicht auch des Lesers. Wer sich darauf einlässt, wird nicht nur einen Gedichtband lesen, sondern Teil einer Bewegung werden: von der Sichtung zur Berichtigung, vom ersten dunklen Raum in einen zweiten, tieferen.
Bewertung: 5/5
Infos zum Buch:
Georg Leß: Lindwurmsichtungen und Berichtigungen. Mit 3 Linolschnitten von Kateryna und Tetiana Ocheredko. Berlin. Corvinus Presse. 2024.
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