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Lena Gorelik: eine Stimme der postmigrantischen Literatur

Lena Gorelik, 1981 in St. Petersburg geboren, kam 1992 mit ihrer russisch-jüdischen Familie als Kontingentflüchtling nach Deutschland und lebt heute mit ihrer Familie in München. Sie absolvierte die Deutsche Journalistenschule und den Masterstudiengang Osteuropastudien an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Romane beschäftigen sich mit den Themen Familie, Herkunft, Judentum und Migration. Für ihren Debütroman Meine weißen Nächte (2004) erhielt sie den Bayerischen Kunstförderpreis, ihr literarischer Durchbruch. Mit ihrem zweiten Roman Hochzeit in Jerusalem (2007) wurde sie für den Deutschen Buchpreis 2007 nominiert.

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Lena Gorelik wurde mit dem Bayerischen Kunstförderpreis (2005), dem Ernst-Hoferichter-Preis (2009) und dem Förderpreis Friedrich-Hölderin-Preis (2009) ausgezeichnet. 2022/23 übernimmt Lena Gorelik die Poetikdozentur der Leibniz Universität Hannover und des Literaturhauses Hannover. Diese würdigt Autorinnen und Autoren, die die Realitäten einer postmigrantischen Gesellschaft beschreiben. Die Dozentur versteht sich als Beitrag zu einer Gesellschaft der Vielen. Goreliks Vortrag trägt den Titel Ich schreibe, weil ich glaube, ich bin. In der Begründung für die Vergabe heißt es:

Mit Lena Gorelik übernimmt eine Autorin die erste Hannoversche Poetikdozentur für Neue Deutsche Literatur, in deren Schreiben Fragen von Zugehörigkeit und Migration eine zentrale Rolle spielen.

In dem Buch zur Poetikdozentur, das 2024 erscheint, erkundet Gorelik ihr persönliches Verhältnis zum Schreiben, das stark von ihrer Herkunft und Geschichte geprägt ist. Sie beschreibt das Schreiben als einen untrennbaren Teil ihres Lebens: „Ich könnte nie aufhören zu schreiben, ich wüsste nicht einmal, wie ich es tun sollte“. Was wie ein Allgemeinplatz klingt, wird im Laufe des Textes konkret, subtil und vor allem persönlich. Gorelik erweist sich als scharfsinnige Beobachterin ihrer Schreibgewohnheiten und reflektiert ihre eigene Sprache auf einer Metaebene.

Besonders beeindruckend ist ihre größte Angst: das Ich, das sich selbst in den Mittelpunkt stellt. Auch das „Wir“ erscheint ihr problematisch, vor allem in Kontexten wie „neue deutsche Literatur“ oder „postmigrantisch und divers“. Sie fragt: Was ist dieses „Wir“, wer ist damit gemeint, und wollen alle, die darunter fallen, wirklich dazugehören? Es waren wohl Zuschreibungen wie „ihr Ausländer“, „ihr Russen“, „ihr Juden“, die Gorelik kritisch gegenüber jeder Art von Gruppenzuordnung gemacht haben.

Goreliks Text fließt sanft und rhythmisch, voller richtiger und wichtiger Gedanken, die viele Schreibende beschäftigen. Sie spricht Themen an, die im Schreiballtag präsent sind, aber oft aus dem Fokus geraten. Zum Beispiel die Ähnlichkeit des Schreibens mit dem Pilzesammeln oder die Bedeutung von Etiketten wie „russisch-deutsch“, „deutsch-jüdisch“ oder „engagiert“. Vielleicht hilft ihr dabei ihr ausgeklügeltes Post-it-System über dem Schreibtisch, mit dem sie Ideen für Texte und Romane organisiert.

Der Text ist organisch, von fließenden Übergängen geprägt. Das passt zu einer Autorin, die sagt: „Der schönste Moment beim Schreiben ist, wenn ich aufgehört habe, schreiben zu wollen. Der schönste Moment ist jetzt. Jetzt schreibe ich, weil ich, glaube ich, bin.“ Das Thema Herkunft spielt immer wieder eine Rolle. So erinnert sich Gorelik, wie ihre Mutter nach ihrer Ankunft in Deutschland das Wort „Asylant“ ablehnte und sich stattdessen als „Ausländer“ bezeichnete – obwohl sie kaum Deutsch sprach.

Seit es Bücher gibt, die Brücken bauen, die Geschichten von Migranten erzählen und dabei auch Ambivalenzen zulassen, fühle sie sich nicht mehr allein, sagt Gorelik. Die Geschichten gäben Menschen, die früher über einen Kamm geschoren worden seien, einen Namen, Erinnerungen und Gefühle und würden das Schweigen beenden. Sie nennt Namen wie Fatma Aydemir, Shida Bazayar, Karosh Taha, Lin Hierse, Martin Kordić, Nava Ebrahimi, Sharon Dodua Otoo. Bei diesen und ähnlichen Autorinnen und Autoren findet Gorelik ihre Sehnsüchte angesprochen, das, was ihr fehlt oder bisher gefehlt hat.

Gorelik schreibt, so scheint es, immer „über sich selbst“, auch wenn sie nicht über sich selbst schreibt. Die Bücher sind das Versprechen, die eigene Einsamkeit hinter sich lassen zu können, aber auch, die eigene Geschichte mit anderen teilen zu können – und damit einen Beitrag zu einer postmigrantischen Gesellschaft zu leisten. Gorelik schreibt auch über ihre Eltern, über den schweigsamen Vater, der in allen Migrantenerzählungen präsent zu sein scheint, aber auch über das russische Essen, die heimischen Gerüche und die Sprache, an der so vieles hängt.

Mit ihrer Poetikdozentur 2022/23 beweist Gorelik ein hohes Maß an Reflexion und Sensibilität, Beobachtungsgabe und Taktgefühl. Ihr Vortrag ist die Summe ihrer bisherigen Schreiberfahrungen – verdichtet in einer rhythmischen Prosa, die zum Nachdenken über das eigene Schreiben anregt. Im Studienjahr 2023/24 wird Ann Cotten die Poetikdozentur für Neue Deutsche Literatur übernehmen, im Studienjahr 2024/25 Neva Ebrahimi.

Bewertung: 5/5

Lena Gorelik: Ich schreibe, weil ich, glaube ich, bin. Verbrecher Verlag. 16 Euro.

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