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„Vivre vite“ von Brigitte Giraud

Für den Roman „Vivre vite“ wurde Brigitte Giraud mit dem Prix Goncourt 2022 ausgezeichnet. Sie begibt sich darin auf eine Zeitreise 20 Jahre zurück, um jenem tragischen Tag auf den Grund zu gehen, an dem ihr Mann durch einen Motorradunfall verstarb. Jener 22. Juni 1999 wird von allen Seiten und unter Berücksichtigung jeder denkbaren Hypothese ausgeleuchtet. Ein reizvolles und ungewöhnliches Gedankenexperiment beginnt.

Gleich zu Beginn wird einem klar, dass das Leben der Erzählerin auch in der Gegenwart gedanklich immer noch von ihrem verstorbenen Mann Claude bestimmt wird, der vor 20 Jahren ums Leben kam. Sie ist gerade dabei, das Haus zu verkaufen, das sie zwei Jahrzehnte zuvor gemeinsam erworben hatte, als der grausame Unfall ihr Zusammenleben jäh unterbrach und für die Erzählerin eine nicht wieder zu kittende Zäsur bedeutete, das Ende von allem Gewohnten, Liebgewonnenen, das Ende von der Familie, die aus Mann, Sohn und ihr selbst bestand.

Mit ihrem Mann war die Erzählerin zunächst aus der Peripherie der Stadt Lyon, wo die beiden zwischen Sozialwohnungen und Hochhäusern großgeworden waren, in eine Wohnung im Zentrum der Stadt umgezogen war – als Zeichen des sozialen Aufstiegs -, um einige Jahre später sogar ein eigenes Haus zu kaufen, denn die Erzählerin hatte sich diesen Wunsch, ein Eigenheim zu besitzen, in den Kopf gesetzt.

Claude, ein Motorradfahrer und Musikfan, der in der örtlichen Diskothek arbeitete, kam aus einer algerischstämmigen Familie, während man über die Erzählerin fast nur erfährt, dass sie als Schriftstellerin auf dem Land arbeitet und ab und zu nach Paris fährt, um Verlagsgeschäfte zu erledigen und Freunde zu besuchen – und natürlich, dass sie es war, die für die Ambitionen innerhalb des Paars zuständig war, während Claude sich eher arrangierte.

Doch wie ist „Vivre vite“ nun aufgebaut? In jedem Kapitel stellt die Erzählerin, die zugleich die Ex-Frau von Claude und Schriftstellerin von Beruf ist, in der Rückschau eine Frage, die mit „Si“, also „falls, wenn“, beginnt (mit Ausnahme des einleitenden Anfangs und des Epilogs, wobei man letzteren meiner Ansicht nach auch hätte streichen können). Im Grunde ist das Buch eine Ansammlung von Hypothesen, was geschehen hätte müssen, damit der Unfall, in welchem Claude sein Leben verlor, nicht stattgefunden hätte.

Die Erzählerin reiht unter der Überschrift „Si“ eine Abfolge von potentiellen Geschehnissen und Aktionen aneinander, die stattfinden hätten können und die sich zu einer (scheinbar) logisch ineinandergreifenden Kausalkette verbinden. In sich ist das Narrativ, das in dem Roman vermittelt wird, völlig logisch, doch würde man hier und da den ein oder anderen Wenn-Satz aus der Reihe herausnehmen, würde die Kausalkette in sich zusammenbrechen.

Beispielsweise beginnt die Aufzählung mit einem Kapitel mit dem Titel „Wenn ich die Wohnung nicht verkaufen hätte wollen“, gefolgt von „Wenn mein Großvater sich nicht umgebracht hätte“ und „Wenn ich das Haus nicht besucht hätte“. Manche der Hypothesen sind in der Reihung durchaus stichhaltig, andere sind weniger glaubhaft und scheinen eher „an den Haaren herbeigezogen“.

Der große Vorzug von Vivre vite, dessen Titel übrigens auf einen Ausspruch von Lou Reed („Schnell leben, jung sterben“/“Vivre vite, mourir jeune“) zurückgeht, liegt in der ungewohnten Struktur, die sicherlich einen Reiz darstellt. Zugleich liegt in der Tendenz, jedem „Falls“, jeder Hypothese und jeder Eventualität nachzugehen, die im Zusammenhang mit dem Motorradunfall vor 20 Jahren steht, allerdings eine Gefahr verborgen; denn allzu leicht passiert es, dass man sich als Erzähler(in) in so einem Fall in den Details verliert und in Theorien versteigt.

Dies geschieht leider bisweilen auch in diesem Roman von Brigitte Giraud, der manchmal Längen aufweist, die nicht per se „langweilig“ sind („langweilig“ wäre wirklich der falsche Ausdruck für Vivre vite), sondern sich dadurch auszeichnen, dass sie zu hypothetisch sind. Ist es wirklich ein bedeutsamer Grund für den Unfall, dass der Verunglückte 300 Francs im Geldautomaten vergessen hatte, oder dass das Motorrad, welches Claude an jenem 22. Juni 1999 fuhr und welches eigentlich dem Bruder seiner Frau gehörte, eine Honda 900 CBR Fireblade, auf dem japanischen Markt zwar nicht verkauft werden durfte, dafür aber sehr wohl auf dem französischen Markt? Oder dass seine Frau am Abend zuvor nicht mit ihm telefoniert hatte?

Was mir an „Vivre vite“ sehr gut gefiel, war die reizvolle Form, die variantenreiche, literarische und gewählte Sprache, die aber nicht gestelzt erscheint. Die Erzählung fließt dahin, als würde die Erzählerin ihre Hypothesen einem wohlgesonnenen Publikum erzählen, als wäre diese Aneinanderreihung von Ursachen, die zwangsweise zum Unfall geführt haben müssen, eine Selbstverständlichkeit, in die jeder vernünftig denkende Mensch Einsicht haben müsste.

Was mich auch positiv überrascht hat, waren die immer wieder einfließenden Gedanken über gesellschaftliche Fragen, die aber nicht überhandnehmen. So wird zum Beispiel der Umzug nach Lyon zu einer Klassenfrage, der Anruf aus Paris nach Lyon von der fern von ihrer Familie und ihrem Kind weilenden Schriftstellerin wird zu einer Frage der Emanzipation der Mutter von der ihr zugeschriebenen Rolle der ewigen Kümmerin, die sich allerdings letztlich – nach der Interpretation der Erzählerin – verhängnisvoll auswirkte. Hätte sie doch angerufen, so ihr Credo! Auch die immer wieder auftauchenden popkulturellen Referenzen auf Bands, Rockkonzerte und CDs sowie Schallplatten machen Vivre vite zu einer pulsierenden Lektüre.

Eine Empfehlung mit einigen wenigen Abzügen.

Bewertung: ⭐⭐⭐⭐

Brigitte Giraud: Vivre vite. Flammarion. 20 €.

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