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„Das andere Mädchen“ von Annie Ernaux

Im Jahr 2011 erschien im Verlag Nil in Frankreich der kurze Brief der Schriftstellerin Annie Ernaux an ihre verstorbene Schwester. Er reiht sich ein in die Reihe von Briefen an Personen, an die man schon immer einen Brief schreiben wollte, die man bislang aber nicht verfasst hatte. In diesem Herbst, kurz nachdem Annie Ernaux den Literaturnobelpreis für ihr autobiographisches Werk als „Ethnologin ihrer selbst“ erhalten hat, ist der Roman nun bei Suhrkamp erschienen. Eine Bilanz.

In Das andere Mädchen (frz. L’autre fille) spürt Annie Ernaux jenem Ereignis nach, über das in ihrer Familie nie gesprochen wurde, und von dem sie erst im Alter von 10 Jahren im August 1950 beim Spielen erfuhr, als ihre Mutter zufällig in ihrer Nähe von ihrer verstorbenen Tochter erzählte. Dies geschah beim beiläufigen Gespräch mit einer Kundin, die ihre Mutter gerade bedient hatte. Die Tochter sei vor dem Krieg an Diphterie verstorben, so die Mutter, sie habe ausgesehen wie eine Heilige, als sie auf dem Totenbett gelegen habe, sie habe gefragt, ob sie in den Himmel komme, und sie sei ihr lieber gewesen als „die da“ (womit sie ihre zweite Tochter Annie meint).

Diese Worte, die die kleine Tochter, bis dahin als Einzelkind aufgewachsen, eigentlich nicht hätte hören sollen – oder waren sie, so fragt sich die Autorin Jahrzehnte später, doch eigentlich für ihre Ohren bestimmt? -, prägen sich der jungen Annie ein. Sie stellt sich im Nachhinein vor, an welchem Datum im August dieses verhängnisvolle Gespräch, das ihr späteres Leben und Sein geprägt hat, genau gewesen sein könnte, und erwählt das Datum von Paveses Selbstmord am 27. August 1950 als Datum des Ereignisses.

Wie üblich seziert Annie Ernaux mit klinischer Schärfe und Distanziertheit ihre eigene Biographie und ebenso das, was sie zwar nicht selbst erlebte, aber aus zweiter Hand erfuhr, z. B. durch Briefe, Berichte, Erzählungen oder Fotos anderer. Sie verarbeitet Traumata schreibend und schreibt damit ihr persönliches Leiden und Leben in ein imaginiertes kollektives Erleben ein, welches auf diese Weise für die Leserinnen und Leser erfahrbar wird – ganz entsprechend der Nobelpreisverleihung für „ihren Mut und ihre klinische Scharfsinnigkeit, mit der sie die Wurzeln, Entfremdung und die kollektiven Zwänge persönlicher Erinnerungen aufdeckt“.

Was mir bei dieser Lektüre Annie Ernaux‘ allerdings mehr als bei anderen Büchern derselben Autorin auffiel – und als Eindruck danach nicht mehr loslassen sollte -, war, dass sie alles Erlebte stets auf sich selbst bezieht. Im Grunde handelt es sich um eine schriftstellerische Form von Egozentrik. So besteht der ohnehin kurze Brief an die tote Schwester nur aus einem Bruchteil aus Erlebnissen, die auf die Schwester eingehen und diese mit „Du“ ansprechen, viel häufiger jedoch bezieht Ernaux das Ereignis des Verlustes auf ihr eigenes Empfinden und Erleben und berichtet die Folgen für ihr Leben.

Diese Form von Selbstreflexion mag man als Traumabewältigung gutheißen und als Form der Verarbeitung goutieren, mit der sich andere, die Ähnliches erlebt haben, identifizieren können, doch sie kann, wenn sie überhand nimmt, auch übermäßig selbstbezogen wirken. Die tote Schwester ermöglicht es für Annie Ernaux, zu sich selbst und zum eigenen Schreiben zu finden, so schreibt sie: „Ich schreibe nicht, weil du gestorben bist. Du bist gestorben, damit ich schreiben kann, das ist ein großer Unterschied.“ Doch ist der Tod einer Schwester wirklich nur der Auslöser für das eigene Schreiben?

Auch die Tatsache, dass die kleinere Schwester beneidet wird, weil sie von der Mutter als „lieb“ bezeichnet wurde, während Annie Ernaux selbst nicht dieselbe Art von „Verschmustheit“ aufbringen konnte, nicht so an Gott glauben konnte wie die Schwester, die auf dem Sterbebett sagte, sie werde in den Himmel und zur Jungfrau kommen, zeugt von einer Art von Selbstbezogenheit, die einem die Autorin als Leser/in nicht unbedingt sympathischer macht. Für Annie Ernaux blieb so, so schreibt sie, nur noch die Einsamkeit und die Intelligenz, die von ihrer kleineren Schwester noch nicht besetzt waren und in denen sie aufblühen konnte.

Wer einen kurzen Roman oder einen Brief mit Handlung erwartet, sollte nicht zu „Das andere Mädchen“ greifen. Es handelt sich um einen sehr persönlichen und auch intimen Brief, der Einsichten in das Leben und Gefühlsleben von Annie Ernaux gewährt, aus dem man durchaus auch Ähnlichkeiten zu eigenen Erlebnissen und Gefühlen ziehen kann. Allerdings fehlt es dem Text an Kohärenz und einer Art von Erzählstruktur, so sagt Ernaux selbst, sie kann die jüngere Schwester nicht zu einer Erzählung verarbeiten. Wer sich allerdings für das Thema des Verlustes eines Kindes interessiert, wird hier vielleicht Trost und Verständnis finden.

Was mich bei Annie Ernaux allerdings doch immer wieder zu ihren Büchern greifen lässt, ist die Tatsache, dass diese miteinander verwoben sind und ein eigenes Universum, das Universum ihres Lebens, formen. Jedes betrachtet ihr Leben aus einer anderen Perspektive, mit einem unterschiedlichen Fokus. Dabei muss man wohl in Kauf nehmen, dass manche der meist relativ kurzen Werke weniger gefallen als andere.

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